Die Zweifel einer Richterin
Ian McEwan gilt als einer der bedeutendsten britischen Gegenwartsautoren. Die Liste seiner Auszeichnungen ist genauso lang wie die seiner Publikationen. Den bisher größten Erfolg konnte er mit dem Bestseller „Abbitte“ verzeichnen, der auch verfilmt wurde. Sein jüngster Roman „Kindeswohl“ wird von der internationalen Presse vielfach als „meisterhaft“ bezeichnet.
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Nun liegt das Werk in deutscher Übersetzung vor. Seit seinem Debüt von 1975, dem Erzählband „Erste Liebe, letzte Riten“, haftet McEwan der Ruf an, der hintergründigste Autor englischer Sprache zu sein. Seine ersten beiden Romane brachten ihm den Spitznamen „Ian Macabre“ ein. Und in der Tat handeln seine Bücher bis heute von jener Bruchstelle in der menschlichen Natur, wo die Normalität des täglichen Lebens nur wenige Millimeter vom Abgrund entfernt ist.
In seinem neuen Buch widmet sich McEwan, wie so oft, der professionellen Elite. Nach einem Chirurgen („Saturday“), einem Forscher („Solar“) und einem Spionageagenten („Honig“), steht nun eine Juristin im Mittelpunkt der Handlung. Fiona Maye ist eine angesehene und gewissenhafte Familienrichterin am High Court in London. Die Handlung des Romans setzt eines Abends ein, als Fionas Karriere durch eine private Katastrophe gestört wird. Ihr Ehemann Jack, ein Geschichtsprofessor, verkündet ihr, dass er ihren Segen für eine außereheliche Affäre will.
Kein Sex seit „sieben Wochen und einem Tag“
Fiona ist außer sich. Jack, mit dem sie seit 30 Jahren eine harmonische Ehe führt, beteuert, dass er sie liebe und nicht verlassen wolle. Die Beziehung sei eben in letzter Zeit erkaltet, er fühle sich wie ihr Bruder. Seit „sieben Wochen und einem Tag“ hätten sie keinen Sex mehr gehabt. Und bevor er sterbe, möchte der 59-Jährige noch einmal große, leidenschaftliche Gefühle erleben. „Die Antwortet lautet Nein“, schmettert sie ihm entgegen. „Hast du denn etwas anderes erwartet?“

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Ian McEwan 2013 in Berlin
„Unten angekommen“
Nach außen hin bemüht sich Fiona, die Fassung zu bewahren und „nicht allzu sehr wie eine Frau in der Krise“ auszusehen. Als Jack am nächsten Tag mitsamt Koffer die Wohnung verlässt, tauscht sie jedoch kurzerhand die Schlösser aus. Eine übereilte und irrationale Handlung, das ist ihr bewusst. Sollte es letztlich zu einer Scheidung kommen, könnte ihr das rechtlich schaden, fällt der Familienrichterin plötzlich ein. Fiona ist schockiert über sich selbst. Jahrelang hat sie über die Boshaftigkeit und Lächerlichkeit von Scheidungspaaren gespottet, jetzt ist sie selbst „da unten angekommen“.
Mitten in diesem Drama wird ihr ein eiliger Fall vorgelegt, ein ethisches Dilemma: Ein 17-jähriger Krebspatient verweigert eine lebensrettende Bluttransfusion. Er und seine Familie - Zeugen Jehovas - lehnen das aus religiöser Überzeugung ab. Fiona beschließt, den Burschen im Krankenhaus zu besuchen, und ist von der Bestimmtheit, mit der er seinen Glauben vertritt, beeindruckt. Doch könnte sie seinen qualvollen Tod verantworten? Für ihr Urteil bleiben ihr nur wenige Stunden. Schafft sie es inmitten ihrer emotionalen Notlage eine gerechte Entscheidung zu treffen?
Intensive Recherchen
McEwan erzählt die Geschichte durchgehend aus der Perspektive Fionas und breitet sich in ihrer Gedankenwelt aus, um zahlreiche weitere Gerichtsverfahren mitsamt bedrückenden Details zu schildern. Da sind etwa der brisante Streit über das Recht eines Mädchens auf Bildung und der komplizierte Fall der Trennung von siamesischen Zwillingen, in dem sie über das Überleben der Kinder zu entscheiden hatte. Ein Urteil, mit dem sie noch immer hadert.
Bei vielen Autoren sind solche Passagen bloße Hilfsmittel, um die Erzählung mit der notwendigen Authentizität auszustatten. Bei McEwan ist das anders. Er ist bekannt dafür, sich leidenschaftlich in die Recherche zu stürzen und tief in die faszinierende Welt seiner Figuren einzutauchen. Dort bewegt er sich dann so selbstverständlich und mühelos, dass man sich kaum des Eindrucks erwehren kann, es handle sich um einen Insiderbericht. Dem Autor gelingen damit mehr als bloße Milieustudien. Er dringt zum Kern der Dinge vor.
Die kleinen Verschiebungen innerhalb der Ehe
Allein schon lesenswert sind die elegant formulierten Urteile Fionas. „Klare, beinahe ironische, beinahe warmherzige Prosa“, für die sie auch von ihren Richterkollegen gelobt wird. Angesichts ihrer eigenen Misere fehlen ihr allerdings die Worte. Jack kommt nur wenige Tage später gedemütigt von seinem Abenteuer zurück. Er sieht nun seinen Fehler ein. Seine Entschuldigung wird dem Ausmaß der Kränkung jedoch nicht gerecht. Der Frieden der Ehe ist nachhaltig gestört. Das Ehepaar schweigt.

Diogenes
Buchhinweis
Ian McEwan: Kindeswohl. Diogenes, 224 Seiten, 22,60 Euro.
Die gesamte englische Literatur handle von der Unfähigkeit, Dinge auszusprechen, hat McEwan einmal gesagt. Seine große Stärke ist es, diese Lücken aufzuspüren und für die Leserschaft in Sprache zu verwandeln. Grandios inszeniert er etwa eine Szene beim Frühstück, als Jack Kaffee zubereitet und seiner Frau vorsichtig eine Tasse bereitstellt. Ein zaghafter Versuch der Versöhnung, ein undefinierbarer Moment, in dem es zu einer „winzigen Verschiebung in den ehelichen Verwerfungslinien kommt, einer Bewegung, so unmerklich wie die Kontinentaldrift“.
Fundamentale Fragen des Alters
Fiona versucht indes, wieder Herr der Lage zu werden und in analytischer Richtermanier ihre Situation in ein großes Ganzes einzuordnen. Geht es hier um eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, die sich von ihren Gefühlen zu einer beruflichen Verfehlung hinreißen lässt, oder darum, einen jungen Menschen durch das Einschreiten eines weltlichen Gerichts dem Glaubenssystem seiner Sekte zu entreißen? Dem Autor, der öffentlich stets gegen jeglichen Dogmatismus auftritt, geht es jedenfalls nicht darum, die starren Glaubenssätze der Zeugen Jehovas anzuprangern. Ihn interessieren vielmehr die fundamentalen Fragen, die dahinter stehen.
TV-Hinweis
Der „Kulturmontag“ (ORF2, 22.30 Uhr) hat McEwan zum Interview geladen - mehr dazu in tv.ORF.at
Wie alt muss man sein, um zu wissen, was richtig oder falsch ist? Dieses Problem hat McEwan schon zuvor beschäftigt. In seinem Buch „Abbitte“ begeht ein Kind, halb unwissend, halb vorsätzlich, eine Tat, die es sein Leben lang bereuen wird. Nun soll ein Kind, fast schon ein Erwachsener, vor einer folgenschweren Fehlentscheidung bewahrt werden. Doch wie sollen Erwachsene über das Wohl von Kindern urteilen, wo sie doch selbst nicht vor fatalen Fehltritten gefeit sind? Mit „Kindeswohl“ legt McEwan einen weiteren brillanten Gesellschaftsroman vor, den man mit seinen nur rund 200 Seiten gerne in einem Durchgang liest.
Claudia Gschweitl, ORF.at
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