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Skepsis und wegfallende Grenzen

Anfängliche Begeisterung, spätere Skepsis gegenüber neuen Mitgliedern und mehr Reisefreiheit - der EU-Beitritt Österreichs am 1. Jänner 1995 hat über die Jahre für einigen Wirbel in der Republik gesorgt. Europa-Experten haben für ORF.at die wichtigsten Ereignisse kommentiert, die Österreich in den letzten 20 Jahren bewegt haben.

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Das wahrscheinlich dominanteste Ereignis in der Beziehung zwischen Wien und Brüssel sind die Quasi-Sanktionen, die Anfang 2000 gegen Österreich verhängt wurden. 14 EU-Partner froren aus Protest gegen die schwarz-blaue Koalition diplomatische Beziehungen ein.

Eiszeit machte „Aufbauarbeit zunichte“

EU-Treffen wurden für österreichische Minister daraufhin zum Spießrutenlauf. Erst der Bericht von drei einberufenen Weisen führte dazu, dass die EU-14 die Sanktionen offiziell wieder aufhoben. Die Weisen befanden die Maßnahmen als kontraproduktiv - sie hätten in Österreich nationalistische Gefühle hervorgerufen.

Sieben Monate dauerte die Eiszeit, dem Verhältnis vieler Österreicher zur EU schadete es aber nachhaltig: Die Sanktionen befeuerten EU-Skeptiker und kühlte die Begeisterung vieler Bürger für Europa deutlich ab. Für den Politologen Peter Filzmaier hat die Reaktion der EU „viel Aufbauarbeit zunichtegemacht“. Auch die Versachlichung der Debatte sei dadurch zurückgeworfen worden.

Keine „böse Intrige der Europäer“

Der langjährige Brüssel-Korrespondent Thomas Mayer will in den Sanktionen keine „böse Intrige der Europäer gegen Österreich“ sehen. Es liege einfach in der Gründungsgeschichte der Europäischen Gemeinschaft (EG), die die Überwindung des Nationalsozialismus schlechthin sei, dass das „ständige Spiel mit den Nazi-Geschichten“ nicht akzeptiert werden konnte. Das hätten Österreich und allen voran der damalige Kanzler Wolfgang Schüssel und sein Koalitionspartner Jörg Haider nie kapiert.

Das Unglückliche daran sei der von Schüssel ausgerufene nationale Schulterschluss gewesen, der daraufhin entstanden sei. Dadurch ist für Mayer der Eindruck entstanden: „Da sind wir, und auf der anderen Seite ist die EG.“ Und darunter habe schließlich auch der Stellenwert Österreichs in der EU gelitten. Vor 20 Jahren habe das Land noch als „kerneuropäisch“ gegolten. Bis zum heutigen Tag feuerten die Sanktionen außerdem Ressentiments gegen die EU an.

Eine Beziehung, die etwas aushält

ORF-Brüssel-Korrespondent Raimund Löw bezeichnet die scharfe Reaktion der EU-Regierungen auf die Regierungsbeteiligung der FPÖ als schwierigste Phase der 20-jährigen Mitgliedschaft. Für Löw ist die Bindung zwischen Brüssel und Österreich aber stärker, als das manche Umfragewerte glauben lassen möchten. „Die Regierung blieb auf dem proeuropäischen Kurs, die hat das ausgehalten.“ Schüssel habe die europafeindlichen Tendenzen in der FPÖ ausgebremst. Auf EU-Ebene beschäftige man sich jedoch immer noch damit, wie man mit rechtspopulistischen Parteien umgehen soll.

Beitritt als „eigentlicher Befreiungsakt“

Belastbar ist die Bindung aber auch durch das überdeutliche Ja, das die Österreicher am Beginn zur EU gegeben haben. Die Volksabstimmung, bei der 1994 zwei Drittel der Österreicher für den Beitritt votierten, ist für den Politologen Filzmaier der eigentliche erste Höhepunkt der EU-Mitgliedschaft. Die überraschend hohe Zustimmung strafte alle Skeptiker Lügen - hatten doch mit einem derartig eindeutigen Ergebnis im Vorfeld nur wenige gerechnet.

Für den Journalisten Mayer ist der Beitritt zur EU jedenfalls von enormer historischer Bedeutung - der „eigentliche Befreiungsakt Österreichs“. Der Staatsvertrag im Jahr 1955 sei zwar offiziell, aber „nicht wirklich“ freiwillig gewesen, sondern von den Alliierten aufgezwungen worden. „1995 war eine echte freie Entscheidung einer freien Republik“. Es sei jedenfalls kein isoliertes Ereignis, sondern das Ende der Nachkriegsordnung.

„In Schilling gerechnet ...“

Mit dem EU-Beitritt stellte Österreich auch die Weichen für den Euro, die neue Währung wurde im Jahr 2002 eingeführt. Die Währung sei „viel mehr als Geld“, so Löw, der Euro sei auch ein Symbol und „Ausdruck der europäischen Identität.“ Ganz ging die Idee dahinter allerdings nicht auf, denn eigentlich hätte auf Grundlage der gemeinsamen Währung auch eine gemeinsame politische Identität geschaffen werden sollen, so der Europa-Experte.

Bisher konnten die einzelnen Regierungen jedoch keine Einigung über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik erzielen. „Wirtschaftspolitisch macht in Wirklichkeit noch immer jede Regierung, was ihr gescheit erscheint.“ So ganz angekommen ist aber offenbar noch nicht einmal die Währung selbst in den Köpfen der Österreicher. In einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts market im Jahr 2013 gaben 60 Prozent an, ab und zu noch auf Schilling umzurechnen.

Freie Fahrt über Ländergrenzen hinweg

Nur noch Erinnerung sind für die meisten Österreicher lange Staus an den Grenzen und unangenehme Kontrollen. Der EU-Beitritt ermöglicht den Menschen freie Fahrt in fast alle Nachbarländer. Am 1. April 1998 trat das Schengener Abkommen für Österreich voll in Kraft, die Grenzkontrollen zwischen Österreich und seinen damaligen EU-Nachbarn fielen endgültig weg. Ein „echtes erstes Highlight“, findet Mayer. Zum erstem Mal hätten Österreicher physisch spüren können, dass sie frei sind.

Die Geburt des Ausländerwahlkampfs

Viele hätten es allerdings als negativ empfunden, so Mayer, dass die „schön geordnete österreichische Welt in totale Unordnung geraten ist“ - nicht nur durch die EG, sondern davor vor allem durch die Jugoslawienkriege, die in den 90er Jahren „extrem bestimmend“ waren. Hunderttausende Flüchtlinge kamen nach Österreich. Und das hatte auch innenpolitische Folgen: Jörg Haider erlebte einen Höhenflug mit Anti-Ausländer-Parolen - damals noch ein Novum. „Bis zum Jahr 1991 war Ausländerfeindlichkeit als politisches Thema praktisch nicht existent in Österreich“, so Mayer weiter.

In der Mitte statt am Rand

Ein nächster Höhepunkt folgt am 1. Mai 2004 - die EU begrüßt zehn neue Mitgliedsstaaten in ihrer Runde. Und Österreich rückt mit der Osterweiterung über Nacht ins EU-Zentrum. Für den Korrespondenten Löw ist das das „wichtigste Ereignis für Österreich“. Trotz der Widerstände, die es davor gegeben hat, habe die Ostöffnung „das Leben für viele massiv verändert“. Vor 20 Jahren sei es einfach undenkbar gewesen, von Wien nach Bratislava durchzufahren - ohne Pass, und auch ohne Geld wechseln zu müssen. Gerade Österreich habe, so Mayer, von der Erweiterung wirtschaftlich „extrem profitiert“, da plötzlich vier Nachbarstaaten EU-Mitglieder waren. Und das sei „mindestens so wichtig“ gewesen wie der eigene Beitritt.

Buchhinweise

  • Thomas Mayer: Frei in Europa. Österreich rückt ins Zentrum eines turbulenten Kontinents. Verlag Styria Premium. 224 Seiten, 24,99 Euro.
  • Cerstin Gammelin und Raimund Löw: Europas Drahtzieher. Wer in Brüssel wirklich regiert. Verlag Econ. 384 Seiten, 20,60 Euro.

Nach der Einschätzung von Meinungsforschern war etlichen Österreichern damals allerdings nicht zum Feiern zumute. Sie sorgten sich um ihren Arbeitsplatz, fürchteten einen Anstieg der Kriminalität und des Transitverkehrs. „Trotz der Ängste“, so Filzmaier, habe man die Osterweiterung als positives Ereignis wahrgenommen, quasi als endgültiges Ende des Kalten Krieges. Das bestätigt auch eine Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE), in der 53 Prozent angaben, dass die Aufnahme der Nachbarländer eine gute Entscheidung gewesen sei.

In den Supermarktregalen ist es plötzlich bunter

Nachhaltig verändert hat der EU-Beitritt aber auch die Supermarktregale in Österreich. Einige Produkte und sogar ganze Handelsketten verschwanden ab 1995 vom Markt. Gleichzeitig gibt es dank dem Binnenmarkt in der EU beim Einkaufen mehr Auswahl als je zuvor und auch mehr Waren - vom Milchreis bis zur Nektarine. Bis 1995 galt in Österreich eine strenge Marktordnung: Die Einfuhr von Nahrungsmitteln wurde vom Staat streng reglementiert. „Es gab vor dem EU-Beitritt keinen Milchreis, kein Sahnejoghurt, viel weniger Mozzarella oder Feta. Auch bei Wurstwaren hat sich das Sortiment, vor allem aus Italien, massiv ausgeweitet“, heißt es etwa von der Supermarktkette Spar.

„Österreich war ein stark abgeschotteter Markt“, so Mayer. Ausländische Lebensmittel, etwa französischer Käse, habe es vor 1995 fast gar nicht und wenn, dann nur zu horrenden Preisen zu kaufen gegeben. Eine erste Konsequenz des EU-Beitritts war deshalb nicht nur, dass die Regale besser gefüllt waren, sondern auch, dass Lebensmittel plötzlich billiger wurden.

Langwierige Anpassung an EU-Gesetze

Auf politischer Ebene hingegen hat ein struktureller Umbau im großen Stil stattgefunden, der nach 1995 erst einmal die Regierung ausgiebig beschäftigt hat. Allein die Umstellung der Gesetzgebung, die Übernahme von EU-Recht in der österreichischen Gesetzgebung, habe „mindestens zwei Regierungen gedauert“, glaubt Mayer. Viele Bereiche - wie etwa Post, Energie und der öffentliche Verkehr - seien noch nicht liberalisiert gewesen. Österreich war von seiner Grundstruktur her noch ganz anders organisiert. Ohne den Beitritt zur EG hätte eine Reform von innen heraus wohl viel länger gebraucht, so Mayer weiter.

2008 „auf dem falschen Fuß erwischt“

Ein wirklich großer Einschnitt für ganz Europa war freilich die 2008 aus den USA herübergeschwappte Finanzkrise. „Die hat Europa auf dem falschen Fuß erwischt“, kommentiert Mayer. Ereignisse, die außerhalb der Union stattgefunden haben - nämlich der Irak- und der Afghanistan-Krieg - hätten davor innerhalb der Union zu großem Dissens geführt. Die EU sei damals „nicht sehr stabil“ gewesen und voll erwischt worden.

Die Folgen sind in Österreich an vielen Indikatoren ablesbar. Wirtschaftsexperten schrauben die Konjunkturprognosen aufgrund der zögerlichen Erholung im Euro-Raum laufend zurück. Es wird erwartet, dass die Wirtschaft 2015 kaum vom Fleck kommt. Gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit nach wie vor an und nähert sich neun Prozent.

Neu entfachtes Interesse an Europa

Für Löw ist nach der Krise in der Bevölkerung das Bewusstsein geblieben, dass Ländern, die in großen Schwierigkeiten stecken - wie etwa Griechenland -, im Notfall geholfen werde und dass die EU internationalen Spekulanten nicht das Feld überlasse. Löw kann der Krise deshalb auch etwas Positives abgewinnen: Lange habe es nicht so großes Interesse und so viele Diskussionen über Europa gegeben wie seither. Die Euro-Krise habe auch das Bewusstsein über Zusammenhänge geschaffen - etwa, dass das Sparbuch der Großmutter davon abhängt, wie es um den Euro steht.

Vielleicht hat die Krise dadurch ja dazu beigetragen, das komplexe Gefüge dem einen oder anderen EU-Bürger ein klein wenig näherzubringen. Denn Komplexität und Undurchschaubarkeit sind zwei Punkte, die auch nach 20 Jahren Mitgliedschaft eine Herausforderung bleiben.

Petra Fleck, ORF.at

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