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„Fantasie einer post-ethnischen Ära“

Darren Wilson, der weiße Polizist, der in der US-Stadt Ferguson den 18-jährigen Afroamerikaner Michael Brown - wie er beteuert in Notwehr - erschossen hat, sieht sich im Recht. Ein Interview mit ihm trug allerdings nicht zur Deeskalation bei. Die Presse ist voll von Kommentaren über ein Rassismusproblem in den USA, die Eltern des Toten sind „entsetzt“ über die Aussagen des Polizisten.

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Wilsons Äußerungen über die von ihm abgegebenen tödlichen Schüsse auf ihren Sohn machten „alles nur noch schlimmer“ und seien „so respektlos“, sagte Browns Mutter Lesley McSpadden am Mittwoch in der „Today Show“ des TV-Senders NBC. Außerdem sei die Darstellung des Polizisten unglaubwürdig. „Ich glaube kein Wort davon“, sagte McSpadden in einem weiteren Interview mit dem Sender CBS. „Unser Sohn hat keine gewalttätige Vorgeschichte.“

Der Vater des getöteten Teenagers, Michael Brown senior, erklärte auf NBC die Version des Polizisten für „verrückt“. Erstens sei sein Sohn stets respektvoll mit der Polizei umgegangen, sagte er. „Zweitens, wer würde bei vollem Verstand auf einen Polizeibeamten zustürmen, der seine Waffe gezogen hat?“

Am Mittwoch trafen Browns Eltern in New York zu einem öffentlichen Gebet zusammen. Dazu aufgerufen hatte der Bürgerrechtler Reverend Al Sharpton. „Ich hoffe, Amerika wird verstehen, dass sie alle menschliche Geschöpfe sind“, sagte Sharpton in seiner Predigt. „Und der Wert des Lebens dieser Söhne und Ehemänner sollte von niemandem infrage gestellt werden.“

Polizist hat „reines Gewissen“

Wilson hatte Brown Anfang August in der Kleinstadt Ferguson im US-Staat Missouri auf offener Straße erschossen. Der Polizist will in Notwehr gehandelt haben, allerdings war der 18-jährige Brown unbewaffnet. Eine Grand Jury aus zwölf mehrheitlich weißen Geschworenen hatte am Montag entschieden, dass die Beweislage für eine Anklage gegen Wilson nicht ausreiche. Daraufhin wurde Ferguson von gewalttätigen Protesten erschüttert. Gebäude und Autos wurden angezündet, Geschäfte geplündert, die Polizei setzte Tränengas ein, es gab zahlreiche Verletzte und Festnahmen. Mittlerweile wurden über 2.000 Reservisten der Nationalgarde nach Ferguson verlegt.

Demonstranten in Atlanta werden festgenommen

AP/John Amis

Dutzende Festnahmen gab es auch nach den Ausschreitungen vom Montag in Ferguson

Wilson hatte in der Nacht auf Mittwoch in dem Exklusivinterview mit ABC zu den tödlichen Schüssen gesagt, dass er ein „reines Gewissen“ habe. Er habe seine Arbeit „richtig gemacht“ und würde heute wieder so handeln. Der Polizist beschrieb Brown als „kräftigen“ Typen, der ihn attackiert und nach seiner Dienstwaffe gegriffen habe. In seiner Aussage vor der Grand Jury verglich Wilson den Jugendlichen mit einem wütenden „Dämon“, der trotz der Schüsse auf ihn zugelaufen sei. „Er wollte mich töten“, sagte der Polizist dann im Interview. Er habe befürchtet, dass Brown ihm seine Dienstwaffe entreißen und sie auf ihn richten könnte.

„Unorthodoxe“ Ermittlungen unter Kollegen

Gegen den Polizisten laufen noch Ermittlungen durch die Bundesbehörden wegen möglicher Bürgerrechtsverletzungen. Derzeit hält er sich an einem geheimen Ort auf, vom Dienst ist der 28-Jährige freigestellt. Der Bürgermeister von Ferguson, James Knowles, wollte sich am Dienstag nicht zu Wilsons beruflicher Zukunft äußern.

Nach dem tödlichen Zwischenfall sei jedenfalls sehr „unorthodox“ ermittelt worden, berichtete die „Washington Post“ am Mittwoch unter Verweis auf die Unterlagen aus Wilsons Prozess. Der Polizeibeamte sei nach den tödlichen Schüssen alleine zurück in seine Polizeiwache gefahren, habe seine blutigen Hände gewaschen und seine Dienstwaffe selbst in einen Umschlag, wie er zur Sicherung von Beweismitteln dient, gepackt. Wilsons Aussagen seien auch nicht aufgezeichnet worden, die Gerichtsmedizin habe nachlässig bis schlampig gearbeitet.

Land „gespalten wie noch vor Jahrzehnten“

Viele Stimmen in der US-Presse zu dem Fall sind, was ein überwunden geglaubtes Rassismusproblem in den USA betrifft, pessimistisch. „Ein Land mit einem afroamerikanischen Präsidenten und einer beträchtlichen (...) schwarzen Mittelschicht bleibt, was das Justizsystem betrifft, genauso gespalten wie noch vor Jahrzehnten“, schrieb etwa die „New York Times“. In der „Washington Post“ hieß es: „Ferguson hat das Land von der Fantasievorstellung weggezwungen, dass Amerika in eine ,post-ethnische‘ Ära eingetreten ist.“ Doch weder habe eine nationale Debatte eingesetzt noch werde das tiefgreifende Gefühl von Ungleichheit und Ungerechtigkeit thematisiert, das bei viele im Land hätten.

„Wenn alles vorbei ist, müssen Ferguson und die Nation immer noch die grundlegenden Ursachen angehen, die diesen Fall in das öffentliche Gewissen gezerrt haben“, schrieb die „St. Louis Post-Dispatch“ aus Missouri. „Das bedeutet, schwierige Fragen über Armut zu stellen, über soziale Mobilität und Gerechtigkeit in diesem Land. Wie bringen wir die Leute, die in Ferguson ein Geschäft geplündert haben, mit der Hoffnung zusammen, die Barack Obama einst verkörperte.“

Proteste reißen nicht ab

Die Prozesse nach dem Freispruch Wilsons reißen nicht ab. Am Mittwoch stürmten Demonstranten in der Stadt St. Louis, wo das Urteil am Montag gefallen war, den Sitz des Bürgermeisters und skandierten „Schande, Schande“. Die Polizei riegelte das Gebäude ab, es gab mehrere Festnahmen. Zuvor hatte ein Protestzug von mehreren hundert Menschen ein nachgestelltes „Gerichtsverfahrens“ gegen den Polizeibeamten abgehalten.


Demonstranten in Los Angeles

AP/Nick Ut

Proteste in Los Angeles: „Jedes Leben zählt“, „Schluss mit dem Polizeiterror“

Nach den schweren Unruhen in der Nacht auf Dienstag war es auch in der darauffolgenden Nacht auf Mittwoch zu Massenprotesten gekommen, schwere Ausschreitungen blieben aber aus. Kundgebungen fanden in insgesamt 170 Städten in den USA und Kanada statt. Am Mittwochabend kam es auch in London zu Protesten. Vor der US-Botschaft versammelten sich etwa 500 Menschen. „Steckt die rassistischen Polizisten ins Gefängnis“ und „Das Leben der Schwarzen zählt“ stand auf ihren Plakaten. Viele der Demonstranten in der britischen Hauptstadt trugen Kerzen.

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