Die Anziehungskraft des Terrors
Mit zunehmender Sorge wird in Europa das Phänomen betrachtet, dass sich junge Menschen, vor allem Männer, der sunnitischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien und dem Nordirak anschließen. Der religiöse Aspekt gilt bei Experten als nebensächlich und nicht als Auslöser für die Rekrutierung.
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Vor allem dem Mythos, dass Religion eine wichtige Rolle bei der Anwerbung spiele, sind Experten auf den Grund gegangen. Der „Dschihad“ ist nicht das Hauptmotiv bei den Rekrutierungen. So kam bereits 2008 die Abteilung für Verhaltensforschung des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 zu dem Schluss, dass die Terroristen weit davon entfernt seien, tatsächlich religiöse Eiferer zu sein. Eine große Zahl sei religiös nicht gebildet und könne als Neulinge betrachtet werden. Eine feste religiöse Einstellung schütze ja vor Radikalisierung und Extremismus, wie der „New Statesman“ (Onlineausgabe) jüngst aus dem Papier zitierte.
Von Empörung bis zu Sehnsucht nach Heldentum
Die Radikalisierung habe andere Gründe, so der „New Statesman“ unter Berufung auf mehrere bekannte Experten auf dem Gebiet: Moralische Empörung, Unzufriedenheit, Gruppendruck, die Suche nach einer (neuen) Identität, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Sinnsuche. Die Einnahme einer im bisherigen Leben vom Umfeld verweigerten Heldenposition gehört ebenfalls dazu.
Ernst genommen zu werden, die Anerkennung und die Verherrlichung der eigenen Taten in den Augen der Terrorkollegen und die dann doch wieder religiös ausgelegte Nachwelt gelten als Antriebsfeder, wie der „New Statesman“ Experten aus den Bereichen Psychologie, Politikwissenschaft, Islamwissenschaft und Anthropologie zusammenfasst, die sich in Büchern und Fachartikeln ausführlich mit Extremismus auseinandergesetzt haben.
Machotum und Versatzstücke der Jugendkultur
Die zunehmende Brutalisierung der letzten Jahre durch die Kämpfe in Syrien und dem Nordirak ist auch auf das herrschende Machotum und Männlichkeitsgehabe der einander zu mehr Brutalität aufstachelnden Dschihadisten zurückzuführen, wie etwa jüngst das IS-Video mit der Enthauptung des US-Journalisten James Foley zeigte. Die Machoästhetik ist auch bei den Jubelvideos von IS zu sehen. Sie erinnern teils an das Computerspiel „Grand Theft Auto“.
So verwendet der nun vorherrschende Dschihadismus auch zahlreiche Versatzstücke aus der Jugendkultur. Er sei kein Produkt der Moderne wie der klassische Islamismus des 20. Jahrhunderts, schrieb der Jugendkulturforscher Farid Hafez im „Standard“. Er sei eingebettet in ein postmodernes Geflecht hybrider Identitäten. Zur Entwurzelung und Politisierung kämen die Gleichgültigkeit hinzu und die Gleichzeitigkeit einander diametral widersprechender Identitätsbausteine, so Hafez.
Höhere Sache als Ausrede
Die Suche nach Abenteuer und Zeltlagerromantik ist ebenfalls bei einigen Dschihadisten ein wichtiger Anreiz. Das Leben der Terrorkämpfer in Syrien und im Irak gilt ob der Kämpfe als gefährlich. Doch auch darin besteht für einen Teil der aus Europa angeworbenen Kämpfer der Reiz. Gerechtfertigt wird das etwa mit dem Hinweis auf eine höhere, größere Sache.
So ist laut Shiraz Maher vom Internationalen Zentrum für Radikalisierung und politische Gewalt (ISCR) am King’s College in London, der zahlreiche Interviews mit britischen Dschihadisten auch per Telefon und E-Mail geführt hat, eine Änderung in der Begründung für den Beitritt zu finden. Ging man früher nach Syrien, um „den Menschen zu helfen“ - also ein „humanitäres, dem Menschen dienendes Motiv“ -, so heiße es jetzt: „Wir sind nicht für die Menschen in Syrien dort. Das Land gehört Allah und nicht den Menschen.“
Suche nach Identität in globalisierter Welt
Besonders anfällig für die Lockrufe der Dschihadisten sind Experten zufolge junge Männer aus der zweiten oder dritten Einwanderergeneration. „Diese Generation wird nicht so erfolgreich sein wie ihre Eltern“, beschreibt Erin Marie Saltman vom britischen Islamisten-Forschungsinstitut Quilliam Foundation die Beweggründe in Großbritannien. Viele hätten ein Problem, in der globalisierten Welt ihre Identität zu finden. „Einige Menschen bevorzugen klare Strukturen und sind anfällig für Gruppen, die ihnen einen Tod als Märtyrer und einen Status als Superheld und Weltenretter versprechen.“
Anwerben „unter Freunden“
Deutlich geändert hat sich auch die direkte Anwerbung. Sorgten zuvor vor allem Hassprediger in einschlägig bekannten Moscheen für die Radikalisierung und Rekrutierung, wird das Freundschaftsnetz immer wichtiger. Junge Radikale reisen laut Maher in den Nahen Osten und suchen den Kontakt zu Islamistennetzwerken.
Sobald sie sich in der Gruppe eingerichtet haben, kommunizieren sie per E-Mail mit ihren Freunden in Europa und sagen ihnen, dass sie sich ebenfalls anschließen sollen, so Maher in der „Daily Mail“. Diese Methode sei aufgrund der persönlichen Vertrauensverhältnisses besonders effektiv. Der bereits Angeworbene könne seinen Freunden Versicherung und Ermutigung gleichzeitig geben und die Probleme vom Training bis zu Sprache erklären und Lösungen aus eigener Erfahrung anbieten. Der bereits Rekrutierte könne sogar angeben, welche Sportschuhe für das Gelände am besten geeignet seien, wie Maher aus einer Dschihadistenmail zitiert.
Ashraf: Große Zahl an Kriminellen
Nach Einschätzung von Afzahl Ashraf vom Royal United Services Institute (RUSI), einem britischen Forschungsinstitut für nationale und internationale Sicherheit, befindet sich unter den britischen Dschihadisten auch eine große Zahl von Kriminellen, die im Gefängnis „konvertierten und radikalisiert wurden“. Für andere sei der Eindruck, dass „Muslime von den westlichen Regierungen unterdrückt werden“, der entscheidende Auslöser, sich den Extremisten anzuschließen.
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