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Spur blutiger Anschläge

Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram hat in den vergangenen Jahren vor allem in Nigeria eine Spur blutiger Anschläge hinterlassen. Ziele sind vor allem Kirchen und Polizeistationen. Tausende Menschen sind den Terroristen in diesem Jahr bereits zum Opfer gefallen, und jede Woche werden es mehr. Die Armee scheiterte bisher trotz drastischer Maßnahmen daran, die Gewalt einzudämmen.

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Kaum ein Tag vergeht, in dem in Nigeria kein Zivilist schrecklichen Terrorakten zum Opfer fällt. Meist konzentrieren sich die Angriffe von Boko Haram auf den Nordosten des Landes, wo die Extremisten der Bevölkerung seit 2009 einen Gottesstaat auf Grundlage der Scharia aufzwingen und jegliche westliche Orientierung ausmerzen wollen. Über Organisationsstrukturen und Mitgliederzahlen liegen keine gesicherten Informationen vor. Die Gruppe soll Kontakte zu nordafrikanischen Al-Kaida-Ablegern haben.

Karte zeigt Nigeria

APA/ORF.at

Im April bekannte sich die Gruppe zur Massenentführung Hunderter Mädchen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren in einer Schule im Teilstaat Borno. In dem Bekennervideo hieß es, die Entführten seien als Sklavinnen verkauft worden. Die Verschleppung der Mädchen hatte international zu einem Aufschrei geführt. Nachdem die nigerianische Regierung lange überhaupt nicht reagierte, forderten Politiker und Prominente auf Twitter unter dem Hashtag #BringBackOurGirls von Präsident Goodluck Jonathan die Befreiung der Mädchen. Die Rettungsaktion blieb allerdings bisher erfolglos.

Steigende Gewalt vor Wahl befürchtet

Angesichts der für Februar 2015 geplanten Wahl wird ein weiterer Anstieg der Gewalt befürchtet. Schon in der Vergangenheit bezahlten Politiker bewaffnete Gruppen, um bestimmte Regionen zu destabilisieren, berichtete Reuters. Das könnte Boko Haram ermöglichen, den Aufstand bis ins Zentrum des 170-Millionen-Einwohner-Landes auszuweiten. „Im Nordosten wird wahrscheinlich das höchste Gewaltlevel während der Wahl erreicht werden, wenn der heftige politische Wettbewerb die derzeitige Unsicherheit überlagert“, analysierte der Nigeria-Experte Roddy Barclay.

In seinem Konfliktbarometer stufte das Heidelberger Institute for International Conflict Research den Konflikt in Nigeria bereits 2013 als „Krieg“ ein. Seit 2012 mussten UNO-Angaben zufolge rund 500.000 Menschen fliehen. Im christlich geprägten Süden ist von den Attacken kaum etwas zu bemerken. Dort richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die wachsende Wirtschaft. Analysten glauben aber, dass die langfristige Bedrohung der Instabilität für das gesamte Land unterschätzt wird.

„Unmöglich, Boko Haram zu besiegen“

Das Ziel, aus ganz Nigeria einen islamischen Gottesstaat auf Grundlage des im Norden vielfach schon geltenden islamischen Rechts (Scharia) zu machen, erreichte die Gruppierung bisher nicht. Doch die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der radikalislamischen Bewegung und den nigerianischen Sicherheitskräften nehmen immer gewalttätigere Ausmaße an.

Boko Haram

Übersetzt heißt „Boko“ (Hausa) wörtlich „Buch“ und steht für Wissen und Bildung im westlichen Sinn. „Haram“ (Arabisch) bedeutet „verboten im Sinne des Islam“.

Die Sicherheitsvorkehrungen sind enorm. Selbst in der im Zentrum Nigerias gelegenen Hauptstadt Abuja wird in regelmäßigen Straßensperren nach Sprengstoff, Maschinengewehren und Macheten gesucht. Anschläge kann die Regierung dennoch nicht verhindern. Bei den Angriffen werden Zivilisten getötet, ganze Siedlungen zerstört, Mädchen entführt.

Nigeria verliere den Kampf gegen den Terrorismus, warnte der Gouverneur des häufig betroffenen Bundesstaates Borno an der Grenze zu Niger und Kamerun, Kashim Shettima, erst vor kurzem: „Ausgehend von der derzeitigen Lage ist es für uns absolut unmöglich, Boko Haram zu besiegen.“ Die Mitglieder der Gruppe seien sogar besser bewaffnet und motiviert als das nigerianische Militär.

Kritik an Armee

Die Armee verliert zusehends die Kontrolle im islamisch dominierten Norden des Landes. Augenzeugen berichten immer wieder davon, dass Soldaten fliehen, bevor Attacken beginnen. Das bisherige Versagen der Sicherheitskräfte, die Gewalt einzudämmen, wurde gerade in den vergangenen Wochen besonders kritisiert. Nicht zuletzt deshalb tauschte Präsident Jonathan vor kurzem den Verteidigungsminister aus.

Sollte etwa der Bundesstaat völlig unter Kontrolle von Boko Haram geraten, könnte das weitere Unruhen auch in der Nachbarregion, etwa in der ohnehin instabilen Sahel-Region, auslösen, wenn sich Boko Haram mit Al-Kaida nahestehenden Gruppen verbindet.

UNO-Vorwürfe gegen Militär

Einen weiteren Vorwurf brachte die UNO erst im März ein. Demnach verstoße die nigerianische Armee ebenfalls gegen Menschenrechte im Kampf gegen Boko Haram. „Viele Menschen, die ich getroffen habe während meines Besuchs, sagen offen, dass Menschenrechtsverletzungen von den Sicherheitskräften begangen wurden“, sagte UNO-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay. Menschenrechtsgruppen zufolge handle es sich dabei um Folter, illegale Verhaftungen und außergerichtliche Exekutionen. Pillay: „Das entfremdet Gemeinschaften und schafft Boko Haram einen fruchtbaren Boden, neue Rekrutierungen zu kultivieren.“

Von Regierung gebilligt?

Zusätzlichen Aufwind und Zulauf bekommt die Gruppe durch die großen Unterschiede zwischen Arm und Reich. Im UNO-Index der menschlichen Entwicklung mit Fokus auf Ungleichheit (Human Development Index, HDI) liegt Nigeria derzeit auf Platz 153 von 187 Ländern.

Im übertragenen Sinn könnte man Boko Haram auch mit „Bildung ist Sünde“ übersetzen. Und gerade im Norden Nigerias, wo die islamistischen Extremisten besonders stark vertreten sind, sind die Analphabetenrate und lückenhafte Schulbildung besonders besorgniserregend. Ein Großteil der Bevölkerung im Norden Nigerias lebt unter der Armutsgrenze. Auch wenn das Land zu den wichtigsten Ölexporteuren zählt, landet das Geld kaum bei der Bevölkerung etwa zur Verbesserung von Infrastruktur-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Die Chancen für Jugendliche sind gering, umso attraktiver scheint Boko Haram zu sein.

Immer wieder tauchen auch die Vorwürfe von Kennern des Landes auf, dass in der Regierung unter Jonathan Mitglieder sind, die Boko Haram nahestehen. „Den größten Grund zur Sorge geben Gerüchte über geheime Absprachen von Boko Haram mit Politikern und hohen Staatsbeamten“, sagte der Experte Morten Boas schon 2012 gegenüber „Le Monde Diplomatique“. Die Gerüchte über Rückendeckung für Boko Haram in der Regierung halten sich bis heute.

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