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Promenadenmischung erobert die Welt

Daheim im belgischen Dinant nannten ihn alle „den kleinen Sax, das Gespenst“. Der Spitzname war kein Zufall. Haufenweise Unfälle und Krankheiten hatten Spuren an dem blassen Kind hinterlassen. Seine Mutter meinte bald nach Adolphes Geburt am 6. November 1814: „Das Kind ist für das Leiden bestimmt. Es wird nicht überleben.“ Mit Zweiterem irrte sie, mit Ersterem nicht. Dazwischen lag das Saxofon.

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Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit hätte Sax, der eigentlich Antoine Joseph hieß, seinen fünften Geburtstag nicht erleben dürfen: Mit zwei Jahren lag er nach einem Sturz über eine Treppe im Koma, ein Jahr später erlitt er einen Schädelbruch, nur um später von herabstürzenden Dachziegeln so schwer verletzt zu werden, dass er wieder im Koma lag. Noch weit mehr Lebensgefahr ging jedoch davon aus, dass man ihn mehr oder weniger unbeaufsichtigt in der Werkstatt des Vaters, des königlichen Instrumentenbauers Charles Joseph Sax, spielen ließ.

Mit 15 die Bassklarinette neu erfunden

In der Werkstatt seines Vaters überlebte der kleine Adolphe eine Explosion, das Trinken von Zinksulfatlösung - er hielt die weiße Flüssigkeit für Milch - und weitere Vergiftungen mit Blei, Kupferoxid und Arsen. Außerdem entronn er ein weiteres Mal nur knapp dem Tod, als ihn ein Dorfbewohner bewusstlos in einem Teich treibend fand. Vielleicht waren es gerade diese Vorfälle, die ihn zeitlebens das trotzige Motto führen ließen: „Im Leben gibt es Eroberer und Eroberte. Ich bevorzuge, unter Ersteren zu sein.“ Sein erstes Ziel dabei war der eigene Vater.

Saxophon-Entwickler Adolphe Sax

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Der junge Sax

Angeblich schon als 15-Jähriger, die Familie war inzwischen nach Brüssel übersiedelt, hatte der Junior den Senior übertrumpft. Eine erst später patentierte Neukonstruktion der Bassklarinette in ihrer heute noch gebräuchlichen Bauweise entwarf Sax demnach schon als Bub. Zugleich studierte er am Konservatorium Klarinette, Flöte und allgemeine Musikfächer. Zeitgenössische Quellen berichten, dass Sax auch jederzeit als Instrumentalvirtuose sein Auslangen hätte finden können. Doch das war ihm nicht genug.

Im Kampf gegen „erbärmliche“ Klänge

Als Musiker fühlte sich Sax zeitlebens von schlechtem Klang persönlich beleidigt. Vor allem der „erbärmliche“ Ton von Holzblasinstrumenten in tieferen Lagen konnte ihn zu Hasstiraden von beeindruckenden Ausmaßen motivieren - nachzulesen etwa in „Das Saxophon“ von Jaap Kool, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Sax’ Zeitgenossen befragen konnte, oder im ebenso gut recherchierten wie unterhaltsamen Buch „The Devil’s Horn“ des US-Amerikaners Michael Segell. Sax beschloss also, etwas für die Klangschönheit zu tun.

Für einen volleren Klang von Blasinstrumenten experimentierte Sax mit so ziemlich allem, was ihm unter die Finger kam: Aus Hörnern wurden Saxhörner, aus Flügelhörnern Saxtromben und aus Tuben Saxtuben, alles noch heute gültige Neuentwicklungen. Und dann gab es da noch eine Promenadenmischung, die alle Blasinstrumente in sich zu vereinen schien: das Mundstück nach Art einer Klarinette, den Korpus eines Blechblasinstruments und die Spielweise einer Flöte. Was das sein sollte, wusste Sax selbst nicht - aber er fand das Ding gelungen.

„Voll, weich, klingend und äußerst kraftvoll“

Wie all die Jahre zuvor trug Sax im Jahr 1841 auch seine neueste Erfindung zur jährlichen Brüsseler Nationalausstellung, so etwas wie die Oscar-Verleihung der boomenden Gewerbe. Und wie all die Jahre zuvor räumten die Juroren unter der Hand ein, dass auch die jüngste Neuentwicklung von Sax der logische Gewinner sei, man aber den Preis keinem 26-Jährigen geben werde, da das dem Renommee der Auszeichnung schaden würde. Da hatte Sax genug. Er ging nach Paris und ließ sich das namenlose Instrument dort patentieren.

In Paris angekommen, ging für Sax alles Schlag auf Schlag. Er schloss sich der jungen Musikszene an und fand in deren Leithammel Hector Berlioz einen begeisterten Fürsprecher. Der schrieb im „Journal des Debats“ am 12. Juni 1842, Sax’ neues Instrument habe einen Klang „von solch ausgesuchter Qualität“, dass ihm „kein bisher in unseren Orchestern gehörtes Timbre“ das Wasser reichen könne: „Er ist voll, weich, klingend und äußerst kraftvoll.“ Und weil Sax noch immer keinen Namen für sein Ding hatte, taufte es Berlioz kurzerhand „le Saxophon“.

Guter Sound auch im Matsch

Und es kam noch besser für Sax: Das Instrument wurde von Berlioz ebenso wie von Gaetano Donizetti, Giacomo Meyerbeer und anderen sofort in Partituren eingebaut. Es gab aber noch niemanden, der es spielen konnte, weshalb für Sax ein eigener Lehrstuhl am Pariser Konservatorium eingerichtet wurde. Damit noch nicht genug: Das neue Instrument überzeugte nicht nur klanglich, sondern auch durch seine Robustheit. Damals großteils bestens budgetierte Militärkapellen rund um die Welt begannen sich dafür zu interessieren.

Sax' Werkstatt, 1855

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Sax’ Instrumentenmanufaktur im Jahr 1855

Klarinetten, Oboen und Fagotte sind für die musikalische Untermalung von Schlachtengetümmel nur bedingt tauglich. Sie sind nicht laut, recht schwierig zu spielen, ziemlich teuer, wenn’s ein gutes Instrument sein soll, und, wenn man sich unter Artilleriebeschuss damit in den Matsch werfen muss, nachher nicht mehr zu verwenden. Ein Saxofon dagegen kann (auch) laut sein und hält einiges aus. Und wenn man die musikalischen Standards niedrig ansetzt, dann können auch Anfänger auf billigen Instrumenten bald Töne hervorbringen. Nur keine schönen.

Einer gegen alle, alle gegen einen

Sax wurde damit aber auf doppelte Art zum Opfer seiner eigenen Erfindung: Innerhalb von Monaten sah er sich von schlechten Kopien seiner Instrumente umgeben, gefertigt von alteingesessenen Instrumentenbauern - die den „belgischen Emporkömmling“ noch dazu mit gefälschten Patentklagen bombardierten, in denen ihm unterstellt wurde, die Idee für das Saxofon gestohlen zu haben. Durch schlechte Musiker und schlechte Instrumentennachbauten wurde das zuerst gefeierte Saxofon nun zusehends in ein schlechtes Licht gerückt.

Original-Mundstücke des Saxophon-Entwicklers Adolphe Sax

AP/Pat Eaton-Robb

Ein von Sax selbst gefertigtes Mundstück (schwarz) und seine modernen Kopien

Der stets kampfeslustige und trotzige Sax verweigerte alle Angebote zur Kooperation mit der alten Garde von Musikern und ihren Ausstattern. Er glaubte naiv, dass am Ende Fakten und Qualität zählen würden. Er nützte etwa seine Virtuosität am Instrument, um altbekannte Musiker in öffentlichen musikalischen Duellen bloßzustellen, und gab den dahergelogenen Vorwürfen vor Gericht keinen Millimeter nach. Das Resultat: Er wurde vom musikalischen Establishment geschnitten und verbrannte sein gesamtes Vermögen vor europäischen Gerichtshöfen.

Was für Sax den Anfang vom Ende bedeutete, brachte jedoch das Saxofon in seiner heutigen Gestalt auf die Welt: Um den Klägern eines auszuwischen, änderte er die Gestalt des zuvor mehrfach gebogenen Saxofons auf die heute bekannte Bauweise, wodurch es noch kräftiger klang, und schon ziemlich „unsymphonisch“. Weitere Krankheiten lähmten Sax’ Energie aber, darunter als unheilbar eingestufter Lippenkrebs, von dem er jedoch wieder vollständig genas - durch beständiges Saxofonspiel, wie er selbst meinte.

Was ein paar gestrandete Saxofone bewirken können

Der Abstieg war aber nicht mehr aufzuhalten. Das nun als lärmendes Juxinstrument geschmähte Saxofon war natürlich keinen Lehrstuhl auf dem Konservatorium mehr wert, und Sax verlor auch noch sein letztes Einkommen. Ohnehin waren große Militärkapellen aber im industriellen Zeitalter zusehends ein Anachronismus. Im US-Sezessionskrieg ließ etwa die Garde der besiegten Südstaaten ihre Instrumente achtlos zurück, auch in New Orleans und Umgebung, wo sich unterprivilegierte Schwarze nur selten Instrumente leisten konnten.

Der Dünkel der Weißen über das „Zirkusclownrequisit“ machte das Saxofon „vogelfrei“, was sich wiederum als Segen entpuppte: Überkommene Spielgewohnheiten wurden abgeschüttelt und aus dem Saxofon noch einmal ganz neue Töne herausgeholt. Aus Marching Bands wurden Jazzbands, aus Ensemblespielern Solisten und schließlich Saxofonvirtuosen - von Swing und Bebop über Rhythm’n’Blues bis Pop. Sax erlebte es nicht mehr, dass seine Erfindung die Musikwelt eroberte - und ihn gleich mit: Er starb verarmt und verbittert am 7. Februar 1894 in Paris.

Lukas Zimmer, ORF.at

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