Millionen sterben an den Folgen
Rund 380 Millionen Menschen leiden derzeit weltweit an Diabetes (Typ-1- und Typ-2-Diabetes). Die Tendenz ist stark steigend, neue Konzepte sind erforderlich, hieß es am Dienstag bei der Eröffnung des 50. Europäischen Diabetes-Kongresses (EASD; bis 19. September) mit rund 18.000 Teilnehmern in Wien.
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„Vor hundert Jahren begann der katastrophale Erste Weltkrieg. Es gab rund 17 Millionen Tote. Im Jahr 2013 waren weltweit rund fünf Millionen Menschenleben durch die Folgen von Diabetes zu beklagen, wobei das Problem epidemisch anwächst“, sagte Andrew Boulton, Präsident der Europäischen Gesellschaft für die Erforschung von Diabetes (EASD). „Supersizing“ Fast-Food-Konsum mit extra Fett- und extra Zuckerkalorien (auch in den Getränken), Übergewicht und immobiler Lebensstil sind laut den wissenschaftlichen Erkenntnissen treibende Faktoren für die wachsende Zahl von Typ-2-Diabetikern (nicht insulinabhängige Diabetes).
Krankheit oft nicht diagnostiziert
In Österreich sind derzeit bis zu 650.000 Menschen und damit rund acht Prozent der Bevölkerung von Diabetes betroffen. Die Dunkelziffer ist hoch. Besonders der Ausbruch von Typ-2-Diabetes kann durch eine Änderung der Lebensweise zumindest hinausgeschoben werden. Ging man noch vor einigen Jahren von einem Anteil der Diabetiker an der österreichischen Bevölkerung von fünf, sechs Prozent aus, wurden im aktuellen Österreichischen Diabetesbericht 2013 des Gesundheitsministeriums von November vergangenen Jahres acht Prozent vermerkt. Nur bei rund 400.000 Betroffenen dürfte die Krankheit diagnostiziert sein.
Zu wenig Insulin
Übergewicht und falsche Ernährung gelten als Hauptauslöser der Typ-2-Diabetes, unter der rund 85 bis 95 Prozent der Zuckerkranken leiden. Die Krankheit entsteht, wenn der Körper nicht genug Insulin produziert, um Glukose abzubauen. Typ-1-Diabetes dagegen ist eine Autoimmunerkrankung.
Medizinisch müssten nun jedenfalls völlig neue Wege beschritten werden, um die Gefahr zu bremsen, sind sich die Forscher auf dem Kongress einig. Neben Grundlagenforschung werden in Wien auch Hunderte klinische Studien präsentiert. Eine Neuentwicklung sind beispielsweise bestimmte orale Antidiabetika vom Typ GLP-1-Rezeptor-Agonist, welche die Insulinfreisetzung nach Mahlzeiten fördern, und zwar mit besonders langer Wirkungsdauer. Noch experimentell ist hier der Wirkstoff Dulaglitide (Eli Lilly), der bereits in den USA und in Europa zur Anmeldung eingereicht wurde. Patienten brauchen das blutzuckersenkende Arzneimittel nur noch einmal wöchentlich unter die Haut zu injizieren.
„Viel komplizierter“ als angenommen
Domenico Accili, aus Italien stammender und an der Columbia University in New York forschender Diabetologe: „Wir haben in den 1980er Jahren geglaubt, wir könnten den Typ-2-Diabetes durch unser Wissen über die mangelnde Zuckerverwertung und die beobachtete behinderte Produktion und Freisetzung des körpereigenen Insulins knacken. Doch wir wissen heute, dass die Angelegenheit viel komplizierter ist.“
Lange Zeit spiegelte sich dieses einfache Schema auch in den Wirkprinzipien der Medikamente wider, welche zur Behandlung der Zuckerkrankheit, speziell beim nicht insulinabhängigen Diabetes (ehemals „Altersdiabetes“) verwendet werden: Arzneimittel, die entweder das Ansprechen auf das körpereigene Insulin verbessern oder die Freisetzung des blutzuckersenkenden Stoffwechselhormons aus den Betazellen in der Bauchspeicheldrüse erhöhen. Im Verlaufe der Typ-2-Zuckerkrankheit kommt es zunächst zu einer Insulinresistenz, dann als Gegenregulation zu einer Erhöhung der Insulinproduktion - und schließlich zum Zusammenbruch der Betazellen.
Kampf gegen Spätfolgen
Einen Teil der Problematik mit den Spätfolgen der Zuckerkrankheit - speziell durch die verstärkte Arteriosklerose bedingte Gefäßschäden - konnten in den vergangenen Jahrzehnten einigermaßen unter Kontrolle gebracht werden. Durch eine genauere Blutzuckereinstellung wurden laut dem Experten die Häufigkeit von diabetesbedingten Netzhautschäden (Retinopathie) und andere Komplikationen der kleinen Gefäße (auch: Nierenschäden) gesenkt.
Aber, so Accili, „noch immer ist die Arteriosklerose mit den Schäden an den großen Blutgefäßen (koronare Herzkrankheit, Schlaganfall, Amputationen im Fuß- und Beinbereich; Anm.) die häufigste Todesursache von Diabetikern. Daran sterben 40 Prozent der Zuckerkranken. Die Betroffenen haben für diese Krankheiten ein vierfach höheres Risiko als Nicht-Diabetiker.“ Um die „makrovaskulären“ Komplikationen des Diabetes, die „Verkalkung“ von Herzkranzgefäßen, Halsschlagadern und Beinarterien, bei Diabetikern in den Griff zu bekommen, werde sich auch die Diabetestherapie selbst neu ausrichten müssen, meinte Accili. Neue Prinzipien werden gesucht.
Lösungen für ursächliche Erkrankung gesucht
Zwar ist längst bekannt, dass die penible Kontrolle von Bluthochdruck und Cholesterinwerten bei Typ-2-Zuckerkranken ähnlich wichtig wie die Einstellung des Blutzuckerspiegels ist, doch die Wirkprinzipien bzw. Medikamente stammen bei Hypertonie und erhöhten Blutfettwerten alle aus der Kardiologie. Sie beeinflussen die ursächliche Diabetes-Erkrankung nicht direkt.
Accili und sein Team haben in jahrelangen Arbeiten im Foxo-1-Gen einen möglichen Ansatzpunkt gefunden. Wird dieser Transkriptionsfaktor, der das Ablesen von Genen reguliert, aktiviert, produziert die Leber vermehrt Glukose. Gleichzeitig wird ein Schalter umgelegt, der wiederum statt der Verwertung des Zuckers dessen Umbau in „böse“ Blutfette (LDL-Cholesterin) antreibt. Könnte man hier regulierend eingreifen, wäre man wohl am Ursprung vieler Diabetes-Probleme angelangt: bei der erhöhten Zuckerproduktion und den daraus resultierenden schlechten Blutfettwerten als großes Risiko für die Arteriosklerose.
Künstliche Kleinstorgane als neuer Therapieansatz
Abgesehen von neuen Wirksubstanzen gibt es mittlerweile auch radikale Ideen: So sollen Zellen im Darm dazu stimuliert werden, Insulin zu produzieren. Accili: „Wir haben aus differenzierten Hautzellen induzierte, pluripotente Stammzellen (iPS) gemacht und daraus Darmorganoide gezüchtet, welche von menschlichem Darmgewebe nicht zu unterscheiden sind. Darmzellen können Insulin produzieren und in ziemlich physiologischer Art und Weise freisetzen.“ Brächte man solche Abläufe bei Zuckerkranken in Gang, wäre das eine potenziell revolutionäre Entwicklung.
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