Dialoge als Aggro-Rap
Mit „Risse im Beton“ legt Umut Dag seinen zweiten Langfilm vor - und etabliert sich als fixe Größe im heimischen Filmgeschäft. Er greift für seine Spielfilme ein Thema auf, das aus einem unerschöpflichen Reichtum an Geschichten schöpft - und im heimischen Kino dennoch sträflich vernachlässigt wird: die Migration.
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In seinem ersten Film „Kuma“ erzählte Dag die Geschichte einer Familie in Wien. Die Mutter, schwer krank, organisiert aus der Türkei eine „Zweitfrau“, die sie nach dem angekündigten Tod an der Seite ihres Mannes ersetzen soll. Sie verheiratet das Mädchen mit ihrem Sohn, um den Aufenthalt rechtlich abzusichern. Die Familie droht zu zerbrechen - und zerbrechlich ist auch die Statur der beteiligten Akteure. Der Film wurde zu Recht von „Le Monde“ hoch gelobt und feierte bei der Berlinale und bei der Diagonale Erfolge.

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Ertan nach zehn Jahren Gefängnis: in die Weite laufen als Inbegriff von Freiheit
Mit seinem zweiten Film, „Risse im Beton“, verlässt Dag, der selbst kurdischen Migrationshintergrund hat, die traditionelle türkische Familie und begibt sich auf die Spuren der Wiener „Ghettojugend“. Dieser Begriff ist vorbelastet und mag auf den ersten Blick im Bronx-Vergleich lächerlich wirken. Aber wer die Kids und ihr Leben in den Neubau- und Gemeindebauwüsten der Wiener Vorstadt kennt, der weiß, dass so manches Klischee nah an der Wahrheit sein kann - und die Wahrheit so manches Klischee übertrifft.
„Du kriegst die Straße nicht aus dir“
Dag weiß das - und seine Hauptdarsteller wissen das ebenfalls. Dag selbst wuchs als Kind in Wien-Brigittenau auf. Er kennt die Welt der Jugendlichen mit Migrationshintergrund samt ihrer Identifikationsmuster: Dag hat Hip-Hop-Videos produziert - auch mit seinem „Risse im Beton“-Hauptdarsteller Murathan Muslu, der selbst gerappt hat. Der türkischstämmige Schauspieler hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Karriere hingelegt - zweimal „Tatort“, einmal „Polizeiruf“ und ein großartiges Spiel in „Das Pferd auf dem Balkon“ des deutsch-türkischen Regisseurs Hüseyin Tabak, der wie Dag Haneke-Schüler ist und bemerkenswerte Filme in Wien dreht („Deine Schönheit ist nichts wert“ - Österreichischer Filmpreis 2014).

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Die jungen Schauspieler im Film - hier Alechan Tagaev - brachten sich ein
Muslu spielt in „Risse im Beton“ Ertan, einen Mann in seinen Dreißigern, der nach zehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Er will nicht mehr zurück ins kleinkriminelle Vorstadtmilieu - aber genau dort landet er wieder mangels Alternativen. Sein Kumpel von damals ist jetzt Boss und erklärt ihm: „Du kriegst dich von der Straße, aber die Straße nicht aus dir. Schau dich an, Mann, du bist Kanake, und du bleibst Kanake.“ Ein Text wie aus einem Aggro-Rap.
Amateurdarsteller spielen sich selbst
Und genau solche Texte schreibt im Film der 15-jährige Mikail, der als Rapper groß rauskommen will, aber zunächst einmal das Geld für ein ordentliches Demotape als Dealer zu verdienen versucht. Er fiebert auf den einen Abend hin: der große Deal, dann ein Treffen mit seinem großen Rapidol Azad (der sich selbst spielt), bei dem über seine Karriere entschieden wird - und danach noch ein Stelldichein mit der Freundin, bei dem „es“ endlich passieren könnte. Man ahnt, dass der Abend nicht so ausgehen wird, wie Mikail sich das wünscht. Am Ende muss er hoffen, dass sein väterlicher Freund Ertan ihm aus der Bredouille hilft.

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Die Umstände zwingen zu Schicksalsgemeinschaften
Mikail wird von Alechan Tagaev gespielt, der selbst tschetschenische Wurzeln und als Kind den Krieg miterlebt hat. Er ist, genauso wie die anderen Jugendlichen, die im Film mitspielen, Amateur und wurde von Eva Roth in einem langwierigen Casting entdeckt. Der Film spielt im 15. Bezirk, dem „migrantischsten“ Bezirk Wiens. Die Jugendlichen haben natürlich nicht genau das erlebt, was Dag in die Handlung des Films gepackt hat, aber im Prinzip spielen sie sich selbst und verwenden ihre eigene Sprache.
„Wir leben genau so“
Im ORF-Interview sagt Tagaev, dass Dag sie ständig gefragt hat, ob dieser oder jener Dialog plausibel ist oder ob man ihn nicht ändern sollte, und dass er ständig offen für Input war. Tagaev: „Wir leben genau so, wie es im Film dargestellt wird.“ Dag sagt über seine Erfahrungen mit den Jugendlichen: „Mit so einer Vergangenheit muss man einmal umgehen können. Da wundert es mich nicht, dass solche Kinder andere Wege beschreiten als Kinder aus einem gutbürgerlichen Milieu.“
Dags Film ist aber nicht einfach ein weiteres Lamento, das sich an Magazinartikel anschließt, die oft „Ausweglosigkeit“ konstatieren. Der Umgangston ist räudig, Werte wie „Ehre“ und „Männlichkeit“ zählen hier mehr als Bildung oder Gleichberechtigung, und die Brutalität ist allgegenwärtig. Aber die Liebe ist da, und ein Ausweg scheint stets möglich. In einem Interview mit „The Gap“ sagt Schauspieler Muslu: „Ja, wir sind hier in Wien. Weißt du, hier gibt’s klares Leitungswasser, wir sind nicht in den Bronx. Jeder kann rauskommen, von wo er grad drinsteckt.“
Ein Thema, das auf die Leinwand drängt
Der Film ist von seinem Tempo und auch von seiner Bildsprache her ganz anders als der langsame, beobachtende, poetische Vorgängerfilm „Kuma“. „Kuma“, das war gelbes Licht, das waren tiefe Blicke und lange Einstellungen. „Risse im Beton“ arbeitet mit schnelleren Schnitten, ist oft in Blautönen gehalten, hart und kalt. Mitunter kommt der Eindruck auf, der Film hätte auch als TV-Produktion gut funktioniert. Aber es ist das Thema, das auf die Kinoleinwand drängt. Und Dag hat es ohne Pathos umgesetzt - packend und verdienstvoll.
Simon Hadler, ORF.at
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