Huch, Pa kann fluchen
Allein sechs Museen beschäftigen sich in den USA mit Laura Ingalls und ihren autobiografischen Büchern über „unsere kleine Farm“ („Little House in the Prairie“): Die Geschichten über den Alltag der daueroptimistischen Familie Ingalls im US-Hinterland sind fest im kollektiven Gedächtnis des Landes verankert. Doch über 50 Jahre nach ihrem Tod wird Ingalls zur „Nestbeschmutzerin“ in eigener Sache.
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Erstmals erscheinen im Herbst in den USA Ingalls’ Erinnerungen an ihre Kindheit als Farmerstochter so, wie sie selbst sie eigentlich von Anfang an veröffentlichen wollte - ganz und gar nicht lieblich, ganz und gar nicht sauber, ganz und gar nicht charakterlich einwandfrei und schon gar nicht mit religiösem Mehrwert, dafür aber umso ehrlicher. Nicht umsonst wurde das Manuskript seit den 1930er Jahren von Verlegern als „jugendgefährdend“ abgelehnt. Ingalls arbeitete es daraufhin zu jenem Märchen um, das zum Fixstern der US-Populärkultur wurde.
Pflichtprogramm für US-Kinder
Während Europäer, so sie sich überhaupt erinnern, „Unsere kleine Farm“ für eine - noch dazu fiktionale - TV-Serie halten, gibt es in den USA kaum ein Kind, das nicht mit Ingalls’ Geschichten aufgewachsen ist. Neben den Büchern und Museen gibt es Ingalls-Gesellschaften, einen Ingalls-Literaturpreis, gleich haufenweise „Kleine Farm“-Laienspielgruppen, ein „Kleine Farm“-Musical, „Kleine Farm“-Kindersommercamps und noch anderes mehr. Man stelle sich Peter Roseggers „Waldbauernbub“ in den Dimensionen von Pippi Langstrumpf vor. Mindestens.

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Da war die Ingalls-Welt noch in Ordnung, im Fernsehen, in den 70ern
Nun bekommt der Mythos - vom ewig gütigen Pa bis hinunter zu Hund Jack - aber gehörige Kratzer, vom Anfang weg: Wie Ingalls in „Pioneer Girl“ etwa schildert, wurde die Familie nicht so sehr von unbändigem Pioniergeist in die Prärie getrieben, sondern vielmehr von Mietschulden. „Pa“ packte daraufhin die Familie in einen Wagen und flüchtete Hals über Kopf in der Nacht aus dem Ort Burr Oak im US-Bundesstaat Iowa, die ganze Zeit über den „reichen alten Halsabschneider“ von Vermieter fluchend.
„Es war einsam“
Auch gab es nicht „die“ kleine Farm, sondern eine ganze Menge davon: Die Familie führte lange Zeit ein unstetes Leben, mit Stationen in Kansas, Missouri, Wisconsin, Minnesota, Iowa, wieder retour nach Minnesota und schließlich Dakota. In ihren „Kleine Farm“-Büchern machte Ingalls daraus zwei fiktive Plätze in Minnesota und Kansas, mit jeweils massig wunderschöner Natur rundum. In Wahrheit hatte die Natur für Ingalls eher beängstigenden Charakter, wie sich nun zeigt.
Buchhinweis
Laura Ingalls Wilder: Pioneer Girl: The Annotated Autobiography. South Dakota Historical Society Press, 30,99 Euro.
„Pa stoppte die Pferde und den Wagen, den sie in die Prärie bis ins Indianergebiet hinausschleppten“, zitierte der britische „Guardian“ vorab aus dem Buch, und weiter: „Ich lag da und schaute durch die Öffnung im Wagen hinüber zum Lagerfeuer, mit Pa und Ma dort. Es war einsam und so still, mit den Sternen, die auf das große, flache Land herunterschienen, wo niemand lebte.“ Biografisch verbürgt ist, dass Ingalls als erwachsene Frau alles Mögliche wollte - nur nie wieder auf dem Land leben.
Alkohol, Tod, Gewalt
Die ländlichen Kleinstädte in den USA kommen im neuen Buch um nichts besser weg, im Gegenteil. Diesen ersten Teil der Erinnerungen hatte Ingalls in ihren „Kleine Farm“-Büchern komplett gestrichen. Nun ist etwa von einem stadtbekannten Säufer in Burr Oaks zu lesen, der beim Anzünden einer Zigarre wegen des Whiskeygehalts in seinem Atem bei lebendigem Leib verbrannte. Der örtliche Greißler wiederum schleifte bei einem Streit seine Frau an den Haaren durch das Haus und zündete schließlich das eheliche Schlafgemach an.
Nicht immer ist die ungeschönte Variante aber die dramatischere: Der Winter des Jahres 1880/81, dem ein eigenes „Kleine Farm“-Buch gewidmet war, dürfte in Wahrheit etwa gar nicht so dramatisch und existenzbedrohend gewesen sein - sondern vor allem grau, lang und öde. Auch Schicksalsschläge in der eigenen Familie wurden für die „Kleine Farm“-Serie geschönt: Dort erblindete Lauras Schwester Mary wegen Scharlachs. In Wahrheit hatte das Mädchen vermutlich Enzephalitis, die die „Hälfte ihres Gesichts aus der Form“ geraten ließ.
„Nett“ währt doch am längsten
Die Herausgeber der reichhaltig kommentierten Ausgabe von „Pioneer Girl“, die ihre Recherchen auf dem Blog Pioneer Girl Project schildern, schwärmen jedenfalls über eine „neue“ Laura Ingalls, die es zu entdecken gebe - eine Autorin, die nun in ihrer „Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit“ in die Reihe großer amerikanischer Erzählerinnen gestellt werden müsse. Tatsächlich wiederfährt Ingalls mit dem Buch späte Gerechtigkeit, war doch immer gemutmaßt worden, dass das „Kleine Farm“-Oeuvre in Wahrheit vor allem von Ingalls’ Tochter Rose stammte.
Die hartgesottenen Fans der „Farm“, egal ob als Buch oder TV-Serie, geloben umgekehrt, dass sie sich ihre heile Welt nicht von der Wahrheit verderben lassen wollen. Sandra Hume, Vorsitzende eines der größten „Farm“-Fanclubs in den USA, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur AP zuletzt, es freue sie, wenn „Leute Interesse an dem haben, was doch irgendwie der Ursprung war“. Sie sei „sehr aufgeregt“ deshalb. Das sei wirklich „nett“.
Lukas Zimmer, ORF.at
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