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Massive Angriffe auf Palästinensergebiet

Israel sucht mit einem massiven Armeeeinsatz nach einem Soldaten, den militante Palästinenser am Freitag im Gazastreifen entführt haben. Ganze Truppenformationen durchkämmten im südlichen Gazastreifen Häuser und verdächtige Orte, unterstützt von starkem Artilleriefeuer, berichtete die israelische Tageszeitung „Haaretz“ am Samstag online. Zugleich intensivierte die Armee ihre Angriffe.

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Eine Militärsprecherin bestätigte, dass Israel in den vergangenen 24 Stunden 200 Ziele in dem Palästinensergebiet am Mittelmeer angegriffen hat. Die meisten dieser Ziele lagen in der südlichen Stadt Rafah und ihrem Umland. Dort hatten militante Islamisten den israelischen Soldaten Freitagfrüh entführt.

Universität bombardiert

Bei den Angriffen wurden in der Nacht mindestens 50 Palästinenser getötet, teilte Aschraf al-Kidra, der Sprecher des örtlichen Gesundheitsministeriums, mit. Nach Angaben palästinensischer Rettungskräfte wurden seit dem Verschwinden des 23 Jahre alten Leutnants Hadar Goldin mindestens 114 Palästinenser getötet und 350 weitere verletzt.

Rausäule über dem Gazastreifen

Reuters/Ibraheem Abu Mustafa

Israel bombardiert Ziele im südlichen Gazastreifen

Israelische Flugzeuge bombardierten am Samstag auch die der Hamas nahe stehende Islamische Universität in der Stadt Gaza. Die Armee habe dort ein Waffenlabor lokalisiert, sagte eine israelische Militärsprecherin.

Ein israelischer Militärsprecher sagte, das Militär stehe kurz vor Erreichen seiner Ziele der Offensive. „Nach unserer Auffassung stehen unsere Ziele, vor allem die Zerstörung der Tunnel, kurz vor dem Abschluss“, sagte Oberstleutnant Peter Lerner. Das könnte ein erstes Signal sein, dass sich die Kämpfe nach dreieinhalb Wochen abschwächen könnten. Die Zerstörung des weitverzweigten Tunnelsystems, das die Hamas als Waffenlager und für Vorstöße in das israelische Kernland nutzt, war erklärtes Ziel der israelischen Offensive.

Schicksal des Verschwundenen ungewiss

Unklar bleibt das Schicksal Goldins. Der bewaffnete Arm der Hamas, die Al-Kassam-Brigaden, bestritt am Samstag, den Soldaten in seine Gewalt gebracht zu haben. „Wir haben den Kontakt zu den an dem Überfall beteiligten Kämpfern verloren, und wir vermuten, dass sie alle bei dem (nachfolgenden israelischen) Bombardement getötet wurden“, hieß es in einer Mitteilung. Dabei sei wohl auch der Soldat ums Leben gekommen.

„Hannibal-Direktive“

Israels Armee aktivierte die „Hannibal-Direktive“ („Nohal Hannibal“). Diese ist eine Prozedur, die im Fall einer Entführung das Erzwingen der Freilassung eines entführten Soldaten zum obersten militärischen Ziel macht - auch um den Preis, israelische Soldaten dadurch zu gefährden.

Israels Justizministerin Zipi Livni warf der Hamas vor, für die Entführung Goldins verantwortlich zu sein, und erklärte, diese werde einen „hohen Preis“ dafür zahlen. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und US-Präsident Barack Obama forderten die sofortige und bedingungslose Freilassung des Soldaten.

Nach Angaben des israelischen Militärs arbeitete die Einheit des Vermissten an der Zerstörung eines sogenannten „Terrortunnels“, als militante Palästinenser sie angriffen. Der unterirdische Gang reichte zwei Kilometer tief in israelisches Gebiet hinein. Die palästinensischen Kämpfer seien aus dem Tunnel heraus aufgetaucht und hätten den israelischen Trupp angegriffen, berichtete die „Jerusalem Post“. Demnach zündete einer von ihnen eine Sprengstoffweste, wie sie Selbstmordattentäter verwenden. Zwei israelische Soldaten wurden dabei getötet.

Waffenruhe hielt keine zwei Stunden

Der israelischen Armee zufolge ereignete sich der Angriff eineinhalb Stunden nach Beginn einer dreitägigen humanitären Waffenruhe, die die Vereinten Nationen und die USA zwischen Israel und militanten Palästinensern vermittelt hatten. Israel erklärte daraufhin die Waffenruhe für gescheitert und verstärkte seine Angriffe.

Ein ranghohes Hamas-Mitglied widersprach dieser Darstellung. Die Entführung sei vor Beginn der Waffenruhe passiert, sagte Mussa Abu Marsuk, der Vizeauslandschef der radikal-islamischen Hamas, der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu.

Zuletzt war 2006 der Soldat Gilad Schalit von einem Kommando unter Leitung der Hamas von israelischem Boden aus durch einen Tunnel in den Gazastreifen verschleppt worden. Er kam erst mehr als fünf Jahre später frei - im Tausch gegen mehr als 1.000 palästinensische Häftlinge. Israel hat inzwischen eine Reihe dieser Freigelassenen wieder festgenommen.

Netanjahu kündigte harte Reaktion an

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte am Freitag eine harte Reaktion angekündigt. Ban zeigte sich nach dem Scheitern der Waffenruhe „schockiert und zutiefst enttäuscht über die Entwicklung“. Er befürchtete „ernste Folgen für die Menschen in Gaza, in Israel und darüber hinaus“.

Israel nimmt nicht an Gesprächen in Kairo teil

Ungeachtet der abermaligen Verschärfung des Konflikts wurde am Samstag eine palästinensische Delegation zu Gesprächen über eine Waffenruhe in Kairo erwartet. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas versicherte, eine Delegation aus Vertretern seiner Fatah-Bewegung, der Hamas und des Islamischen Dschihad werde „auf jeden Fall“ nach Kairo reisen.

Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi bezeichnete die Waffenstillstandsgespräche als „echte Chance“, um eine Konfliktlösung zwischen Israel und der Hamas zu finden. Israel entsendet jedoch niemanden zu den Verhandlungen in Kairo.

USA-Unterstützung für Raketenabwehr

Der US-Kongress stimmte unterdessen für die finanzielle Unterstützung der israelischen Raketenabwehr. Das Repräsentantenhaus in Washington beschloss am späten Freitagabend praktisch geschlossen, für die Ausstattung des Systems „Iron Dome“ (Eiserne Kuppel) 225 Millionen Dollar (knapp 168 Mio. Euro) zur Verfügung zu stellen. Mit dem Geld soll das Abwehrsystem wieder mit neuen Raketen ausgestattet werden.

Schon mehr als 1.700 Tote

Die Zahl der seit dem 8. Juli getöteten Menschen im Gazastreifen ist nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums bis Samstagfrüh auf 1.650 gestiegen. Rund 8.900 Menschen wurden demnach verletzt. Nach Angaben der UNO-Nothilfeorganisation Ocha hat die Gewalt jeden vierten Einwohner im Gazastreifen in die Flucht getrieben. Mehr als 254.000 der 1,8 Millionen Palästinenser hätten Zuflucht in einer der 90 UNO-Unterkünfte gesucht.

Auf israelischer Seite wurden im Gaza-Krieg mindestens 63 Soldaten und drei Zivilisten getötet. Militante aus dem Gazastreifen feuerten am Samstag erneut Raketen auf Israel ab. Zwei Geschoße wurden am Samstag über Tel Aviv, eines über der südlichen Stadt Beerscheva abgefangen. Militante Palästinenser feuerten nach Angaben der israelischen Armee seit Beginn der Militäroffensive mehr als 3.000 Raketen auf Israel ab.

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