„Star Wars“ und russische Sprichwörter
Nicht nur britische Historiker staunen über Geheimdokumente der britischen Regierung, die nach Ablauf der gesetzlichen Sperrfrist von 30 Jahren zu Jahresbeginn veröffentlicht worden sind. Das Dossier besagt vor allem, dass die zeitgeschichtliche Rolle von Michail Gorbatschow, der damals vor seiner Ernennung zum KPdSU-Chef stand, noch immer unterschätzt wird.
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US-Präsident Ronald Reagan war gerade für seine zweite Amtszeit wiedergewählt worden und Margaret Thatcher ungefähr in der Mitte ihrer über zehnjährigen Amtszeit als britische Premierministerin, als Gorbatschow im Jahr 1984 eine erste große diplomatische Tour durch Westeuropa unternahm. Der Osten und der Westen waren noch tief in den Kalten Krieg verstrickt - und wären das laut den Dokumenten wohl auch noch länger geblieben, wenn nicht Gorbatschow mit einer Mischung aus Beharrlichkeit und Chuzpe gegengesteuert hätte.
Gorbatschow „ein bisschen etwas beibringen“
Dass Gorbatschow bald KP-Vorsitzender und schließlich Kreml-Chef sein würde, glaubten Thatchers Berater nicht, im Gegenteil: Sie insistierten, der schwer kranke Konstantin Tschernenko oder jemand aus seiner Riege von Apparatschiks würde die Geschicke der UdSSR künftig bestimmen. Wohl aber wurde Thatcher zu Gesprächen mit dem Außenseiter Gorbatschow geraten, um „ihm ein bisschen etwas darüber beizubringen, wie eine westliche Demokratie funktioniert“.

AP/Gerald Penny
Gorbatschow und Thatcher vor ihrem Landsitz Chequers am 16. Dezember 1984
Das historische Treffen zwischen Thatcher und Gorbatschow fand schließlich am 16. Dezember 1984 statt - und eher Thatcher war die Belehrte. Die Aufzeichnungen der Gespräche lassen sie einigermaßen borniert aussehen, etwa im Hinblick auf an Verschwörungstheorien grenzende Vorwürfe an Gorbatschow, Russland stecke hinter den damaligen britischen Kohlearbeiterstreiks - was Gorbatschow kühl mit dem Verweis parierte, Thatcher müsse sich um ihre eigenen Probleme schon selbst kümmern.
Thatcher petzt bei Reagan
Das größte Anliegen bei den Gesprächen war Gorbatschow laut den Dokumenten die nukleare Abrüstung. Während Thatcher auf der Sinnhaftigkeit von Reagans „Star Wars“-Raketenabwehrplänen beharrte, plädierte ein gut vorbereiteter Gorbatschow - er präsentierte etwa einen „New York Times“-Artikel mit einem Vergleich der militärischen Kapazitäten der USA und der UdSSR - für echte Abrüstungsgespräche und zitierte als russisches Sprichwort: „Auch ein ungeladenes Gewehr kann einmal im Jahr losgehen.“
Thatcher erstattete über das Gespräch prompt Bericht an Reagan. In dem Dokument lobt sie sich zwar selbst für die „knallharte Befragung, die ich ihm zuteilwerden habe lassen“ als etwas, an das „er eindeutig nicht gewöhnt ist“ - zugleich räumt sie aber ein, dass Gorbatschow „eine ziemlich offene Art“ habe und „intelligent“ sei. Sie halte ihn für „einen Mann mit Handschlagsqualität“, der „sich seine eigenen Gedanken macht“ und: „Ich habe ihn eigentlich ziemlich nett gefunden.“
Überraschungsbesuch in Downing Street Nr. 10
Reagan gestand schon 1990, nach dem Ende seiner Präsidentschaft, gegenüber Journalisten ein, dass Thatchers „Empfehlungsschreiben“ aus dem Jahr 1986 einen essenziellen Beitrag zum Ende des Kalten Krieges geleistet habe: „Sie hat mir gesagt, dass Gorbatschow anders als die ganzen anderen Kreml-Führer war. Sie hat geglaubt, dass es eine Chance für eine gewaltige Öffnung gibt. Natürlich sollte sie damit genau recht behalten.“

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„Anders als die ganzen anderen Kreml-Führer“
Auch abseits der Gespräche mit Thatcher offenbaren die nun veröffentlichten Geheimakten Erstaunliches - etwa einen Wutausbruch Gorbatschows bei einem Treffen mit dem damaligen Labour-Führer Neil Kinnock, weil dieser Gorbatschow erklären wollte, wie er mit politischen Gefangenen zu verfahren habe. Außerdem geht aus den Akten hervor, dass Gorbatschow auf eigene Faust vier Tage nach dem Gespräch mit Thatcher in deren Residenz Downing Street Nr. 10 vorbeischaute - wohl wissend, dass Thatcher zu diesem Zeitpunkt schon in China war.
Thatcher nun als „Versagerin“ zu bewerten?
Gorbatschow wollte offenbar ein weiteres Mal unter Beweis stellen, dass er mit den Konventionen der alten Kreml-Garde bricht - oder auch einfach nur die steifen britischen Sicherheitsbeamten provozieren. Laut den Dossiers waren die ganz aus dem Häuschen, als Gorbatschow plötzlich an der Tür läutete. Demnach wurde kurz überlegt, ob Thatchers Ehemann Denis den Überraschungsgast durch das Haus führen sollte. Nach hektischen Beratungen mit dem Außenamt wurde die Idee aber wieder verworfen - und Thatcher selbst davon gar nicht informiert.
So gut Gorbatschow in den veröffentlichten Dokumenten wegkommt, so sehr schaden sie Thatchers Ruf: Das Dossier belegt etwa, dass sie nur mit Mühe zur Fortsetzung der Nordirland-Friedensverhandlungen überredet werden konnte, dass sie gegen Streikende das Militär einsetzen wollte und dass ihr bei Gesprächen mit Südafrikas damaligem Präsidenten Pieter Willem Botha das Schicksal des damals inhaftierten Nelson Mandela herzlich egal war. Der britische „Guardian“ meinte anlässlich der Veröffentlichung sogar, ihre Amtszeit müsse nun als Geschichte „des Versagens“ gesehen werden.
Lukas Zimmer, ORF.at
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