Land droht zu zerreißen
Zwei Wochen nach seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl in der Ukraine hat der 48-jährige Petro Poroschenko am Samstag in Kiew offiziell sein Amt angetreten. Den Oligarchen erwarten immense Herausforderungen. Die Liste ist lang.
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Viele Ukrainer sehen ihr Land „im Krieg“ oder „vom Krieg bedroht“, der Konflikt mit Russland tobt, die Krim wurde vom Riesenreich annektiert, Gewalt und Kämpfe in den Ostregionen Donezk und Lugansk ziehen eine Blutspur, staatstragende Reformen schreien nach Umsetzung, die Korruption blüht, und die Wirtschaft liegt darnieder. Das Land droht - auch an der Uneinigkeit seiner Bürger - zu zerreißen.
Die Revolution vom Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan fordert Fortschritte beim europäischen Weg. Aber nur in einem Punkt herrscht weitgehend Einigkeit: Fast alle wollen ein besseres Leben. Viele Ukrainer müssen mit 100 bis 150 Euro im Monat auskommen. Angesichts dieser Lage ist die Liste der Problemfelder für den neuen Präsidenten denkbar lang:
Konflikt mit Russland: Der Konflikt der Ukraine mit Russland ließ Sorge über einen „zweiten Kalten Krieg“ aufkommen. Russland annektierte die Krim. Kiew wirft Russland zudem vor, „Terroristen“ im Osten des Landes zu unterstützen und die Lage im Land zu destabilisieren. Die USA und die NATO verstärkten ihre Truppenpräsenz in Osteuropa. Russland stationierte zeitweilig Truppen „zum Schutz der russischsprachigen Bürger“ an der ukrainischen Grenze. Moskau wirft der EU und den USA vor, hinter der Maidan-Revolution zu stecken. Der im Februar gestürzte Präsident Viktor Janukowitsch flüchtete nach Russland.
Territoriale Integrität: Nach der Maidan-Revolution annektierte Russland nach einem umstrittenen Referendum die Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Die ukrainische Präsidentenwahl konnte auf der Halbinsel nicht abgehalten werden. Die internationale Gemeinschaft - darunter auch Österreich - erkennt die Annexion nicht an. Aber auch die gewaltüberschatteten Ostregionen Donezk und Lugansk haben sich nach Referenden für unabhängig erklärt. Das Land droht zu zerreißen.
Gewalt im Osten: Die Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und Separatisten in Donezk und Lugansk haben zugenommen und zahlreiche Tote gefordert. In zwei Dritteln der Wahlkommissionen in den beiden Regionen konnte die Präsidentenwahl nicht durchgeführt werden. Beobachter sprechen von Morden, Entführungen, Folter und Bedrohungen - die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang. Die Separatisten würden sich mit menschlichen Schutzschilden umgeben, es gebe Bestechungen, Einschüchterungen, Geldwäsche - die Bevölkerung zeigt sich ängstlich, aber auch wütend darüber, von Kiew vernachlässigt worden zu sein.
Bevölkerung ungeeint: Während Kiew den ungeliebten Janukowitsch von der im Osten starken Partei der Regionen verjagte, verlor die Ostukraine ihren Präsidenten aus Donezk, woher Janukowitsch stammt. Die Ostukraine warf dem Westen des Landes stets vor, dass sie selbst die ganze Arbeitsleistung erbringe und von Kiew zu wenig Geld bekomme. Der Westen wiederum schimpfte über einen korrupten und kriminellen Osten. Aber auch der Süden und die Krim sind nicht unproblematisch. Viele Krim-Bewohner schwelgen in Sowjet-Nostalgie. Die Krimtataren - aber auch moskaukritische Ukrainer und ethnische Russen - sind von einer neuerlichen Vertreibung von der Krim bedroht. Der Maidan selbst entfachte unterschiedliche Hoffnungen und Wünsche.
Europäischer Weg: Die Maidan-Bewegung rief nach einer europäischen Ausrichtung des Landes, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat. Janukowitsch hatte das lang verhandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zurückgewiesen, das war die Geburtsstunde der Proteste. Jedoch entwickelte der Maidan-Protest nie eine starke Führungsfigur oder genaue Botschaft. Die Beurteilungen der Revolution gehen in der Bevölkerung stark auseinander. Viele zeigen sich von „zu laschen“ Sanktionen der EU gegenüber Russland enttäuscht.
Neue Verfassung: Die Liste der notwendigen Reformen in der Ukraine ist nicht endend wollend. Bei der neuen Verfassung geht es vor allem um die stets umstrittene Machtverteilung zwischen dem Präsident und der Regierung sowie zwischen Kiew und den Regionen - sprich Dezentralisierung, Steuersystem, Geldmittelverteilung. Die Polizei ist ebenso reformbedürftig. Die Korruption durchzieht das ganze System und ist eines der größten Probleme. Janukowitsch soll mit seinem Clan alles korrumpiert haben. Auch mit den im Land mächtigen Oligarchen muss der neue Präsident nun ein Auskommen finden.
Sowjetvergangenheit und soziale Werte: Veraltete Sowjetstrukturen und mangelnde oder einseitige Geschichtsaufarbeitung sind ebenso Herausforderungen wie die soziale Armut im Land. Die Griwna verliert an Wert, die Lebenserhaltungskosten steigen. Wirtschaftliche Reformen werden jedoch Einschnitte verlangen. Die Leute fürchten um ihre Pensionen. Viele Berufsgruppen wie Ärzte und Polizisten, die etwa 200 Euro im Monat bekommen, blicken Richtung Westen. Vor allem junge Leute wollen auswandern.
Wirtschaft: Die ukrainische Wirtschaft liegt darnieder, der Staatsbankrott droht. Das Land braucht Gelder von EU und Internationalem Währungsfond (IWF). Investoren bleiben angesichts der Korruption und politischen Instabilität aus. Russland droht, wegen offener Rechnungen in Milliardenhöhe den Gashahn abzudrehen. Da das Gas durch die Ukraine weiter Richtung Westen fließt, könnte das auch Auswirkungen auf Westeuropa haben. Österreich bezieht ein Drittel seines Gasbedarfes aus Russland.
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