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Wahlkampf jenseits aller Grenzen

Großbritannien und Ungarn haben üblicherweise nicht viel gemeinsam. Aber die Vorstellung, dass der nächste EU-Kommissionspräsident aus einer europäischen Wahl hervorgehen könnte, ruft bei den Regierungen in London und Budapest dieselbe Trotzhaltung hervor.

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Erstaunte Ministerkollegen berichten hinter vorgehaltener Hand, dass britische und ungarische Regierungsmitglieder bei EU-Treffen regelmäßig mit verbalen Feuerwerken reagieren, wenn von der wichtigsten Neuerung des laufenden EU-Wahlkampfes die Rede ist: den europaweiten Spitzenkandidaten der Parteienfamilien.

TV-Hinweis

Die Livediskussion #tellEurope ist am Donnerstag ab 21.00 Uhr in ORF III zu sehen. Anschließend zeigt ORF III eine Analyse und Diskussion über die Debatte der Spitzenkandidaten. In Sozialen Medien kann man sich unter #tellEurope beteiligen.

Mit dem erstmaligen Aufeinandertreffen von fünf Spitzenkandidaten vor Fernsehkameras, im Internet und im Radio der meisten EU-Staaten bekommt der Europawahlkampf eine Dynamik, die weder der britische Premier David Cameron noch Ungarns Regierungschef Victor Orban behagt: Es wird nahezu unmöglich sein, den Quasi-Regierungschef der EU so wie bisher allein auf der Grundlage eines Deals der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zu bestimmen.

Eine echte Europawahl

Wahlen zum Europäischen Parlament sind üblicherweise eine Aneinanderreihung von 28 nationalen Wahlgängen. Die Europäer reden dann sehr viel übereinander, kaum miteinander. Die europaweiten Spitzenkandidaten sind ein Versuch, diese Logik von 28 nationalen Wahlkampfmonologen zu durchbrechen. Wie erfolgreich dieser erste Anlauf sein wird, bleibt offen. Die nationalen Parteien gestehen den europäischen Spitzenkandidaten nur eine Nebenrolle zu.

Meinungsstreit in Mitgliedsstaaten

Die Wahl ist allerdings bereits jetzt die spannendste, die je stattgefunden hat. In vielen Staaten tobt ein Meinungsstreit, ob die EU reformiert werden soll, wie die proeuropäischen Parteien unterschiedlicher Couleur verlangen, oder ob die Zeit für eine nationalistische Gegenrevolution gekommen ist. Ein Rückschlag für die Integration ist nicht ausgeschlossen. Rechtsaußenparten in wichtigen EU-Staaten wie Großbritannien und den Niederlanden trommeln lautstark für die Auflösung der EU.

Spitzenkandidaten der EBU-Debatte "TellEurope"

EBU

Werbung für die Eurovision-Debatte mit fünf Spitzenkandidaten

Ein Grund für die Polarisierung ist auch, dass die EU-weiten Spitzenkandidaten grenzüberschreitende Wahlkämpfe durchführen: Jean-Claude Juncker für die Europäische Volkspartei, Martin Schulz für die Sozialdemokraten, Guy Verhofstadt für die Liberalen und das deutsch-französische grüne Spitzenduo Ska Keller/Jose Bove sind seit Wochen jeden Tag bei Wahlveranstaltungen in einem anderen Land unterwegs.

Eigene Tsipras-Liste in Italien

Alexis Tsipras, der Spitzenkandidat der linksradikalen griechischen SYRIZA, hat in Italien sogar eine Tsipras-Liste hinter sich. Die politischen Parteien agieren nach wie vor national. Auf den Plakaten stehen die nationalen Wahlwerber. In Deutschland plakatiert die CDU lieber Angela Merkel, die gar nicht zur Wahl steht, als den nach wie vor wenig bekannten Juncker.

Aber die französischen Sozialisten, vom Umfragetief ihres Präsidenten Francois Hollande schwer belastet, schicken den perfekt französisch parlierenden Deutschen Martin Schulz zur besten Fernsehzeit ins Duell mit Marine Le Pen. Le Pen reagierte pikiert, weil die Rechtsaußenparteien keinen gemeinsamen Kandidaten aufgestellt haben, aber sie muss mit Schulz in den Clinch gehen.

Logos der teilnehmenden Broadcaster der EBU-Debatte "TellEurope"

EBU

Diese öffentlich-rechtlichen Sender übertragen die Debatte aus dem EU-Parlament gleichzeitig.

Die grenzüberschreitenden Debatten markieren die Besonderheit dieses Europawahlkampfes. In verschiedener Konstellation sind Juncker, Schulz und Co. bereits mehrmals aufeinandergetroffen. Die Debatte am Donnerstag ist der Höhepunkt. Erstmals wird auch Tsipras dabei sein, der bisher fast ausschließlich in Griechenland auf Tour war, weil er hofft, die Regierung Samaras zu stürzen.

Eine Diskussion, aber in welcher Sprache?

Die Vorbereitung der TV-Debatte wird seit Monaten von der Europäischen Rundfunkunion (EBU), dem Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender des Kontinents, betrieben. Zu verhandeln war zuerst über die Sprache – schließlich gibt es in der EU 24 offizielle Landessprachen. Die Organisatoren haben sich entschlossen, die Diskussion in alle EU-Sprachen zu dolmetschen. Sie soll aber hauptsächlich in Englisch ablaufen, denn wenn jedes Wort übersetzt werden muss, ist ein lebendiges Gespräch schwierig. Allerdings: Keinem Kandidaten wird verwehrt sein, auch in der Muttersprache das Wort zu ergreifen. Tsipras hat bereits angekündigt, dass er vor allem Griechisch sprechen wird.

Buchhinweis

Wer Europa tatsächlich regiert, hat ORF-Brüssel-Korrespondent Raimund Löw gemeinsamt mit Cerstin Gammelin in Buchform analysiert: Wer Europa tatsächlich regiert. Econ 2014.

Es waren nicht die einzigen gehörigen Hürden, die der Redaktionsbeirat der EBU für ein solches übernationales politisches Streitgespräch zu überwinden hatte. Ebenfalls lange diskutiert wurde die Frage, nach welchen Kriterien die Teilnehmer ausgewählt werden. Der Redaktionsbeirat entschied schließlich, dass die Kandidatur für den Job des Präsidenten der Europäischen Kommission das einzige objektive Kriterium sein kann. Parteien, die keine europäischen Spitzenkandidaten aufgestellt haben, konnten nicht berücksichtig werden.

In 25 Ländern wird die TV-Debatte der fünf Spitzenkandidaten erstmals gleichzeitig übertragen werden, ein Experiment, das austesten soll, ob über die Sprachgrenzen hinaus eine europäische Öffentlichkeit entstehen kann. Die TV-Debatte der fünf Spitzenkandidaten wird eine Premiere sein, die bei zukünftigen Europawahlen schwer zu ignorieren sein wird.

Raimund Löw, ORF, Brüssel

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