Kosten nach Privatisierung minimiert
Bei Protesten einen Tag nach dem schweren Grubenunglück in der Türkei mit mindestens 274 Toten hat die Polizei in Ankara und Istanbul am Mittwoch Tränengas und Wasserwerfer gegen Hunderte Demonstranten eingesetzt. Etwa 800 Demonstranten warfen Steine auf die Beamten und riefen regierungsfeindliche Parolen, wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP berichtete.
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Der Protest hatte sich an dem Bergwerksunglück in Soma im Westen des Landes entzündet. Die Demonstranten wollten von einer Universität in der türkischen Hauptstadt in Richtung des Energieministeriums marschieren. Die Demonstranten werfen der Regierung vor, zu wenig für die Sicherheit der Kumpel getan zu haben.
Wasserwerfer in Istanbul
Auch in Istanbul ging die Polizei gewaltsam gegen mehrere Tausend Demonstranten vor. Die Sicherheitskräfte setzten am frühen Abend auf der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi Wasserwerfer und Tränengas ein, wie dpa-Reporter berichteten. Die Polizei hinderte die Demonstranten daran, weiter in Richtung des zentralen Taksim-Platzes vorzudringen. Die Demonstranten in Istanbul hatten nach dem Grubenunglück den Rücktritt der Regierung gefordert. Einige hielten Plakate in die Höhe, auf denen in Anspielung auf die zahlreichen Toten stand: „Kein Unfall - Mord“.
Proteste auch in Unglücksstadt
Auch in Soma drohte die Lage bei dem Besuch von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan zu eskalieren. Wütende Demonstranten in der Kohlestadt traten mit Füßen gegen das Auto des Ministerpräsidenten, wie die private Nachrichtenagentur Dogan am Mittwoch berichtete. Viele hatten vor dem Gebäude, in dem Erdogan seine Pressekonferenz gab, bereits mit „Mörder“- und „Dieb“-Parolen protestiert und gepfiffen. Das Gebäude wurde von Polizisten, die mit Gasmasken und Wasserwerfern ausgerüstet waren, geschützt.
Erdogan reagierte abwehrend auf Kritik an der Sicherheit in türkischen Bergwerken. „Explosionen wie diese in solchen Bergwerken passieren andauernd“ - und nicht nur in der Türkei, sagte er auf seiner Pressekonferenz. Zur Untermauerung ratterte er eine Aufzählung von Grubenunglücken in aller Welt seit 1862 herunter.

APA/EPA/Erdem Sahin
Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizisten in Ankara
Gewerkschaft: Programmiertes „Massaker“
Türkische Gewerkschaftsvertreter sprachen am Mittwoch von einem programmierten „Massaker“. Der Betreiber der Grube beschäftige eine große Zahl an Leiharbeitern, um die Lohnkosten gering zu halten, sagte der Chef der linken Gewerkschaft DISK, Kani Beko, gegenüber türkischen Medien. Es müsse damit gerechnet werden, dass die Zahl der Toten weiter steige.
Der größte türkische Gewerkschaftsbund TÜRK-IS rief seine Mitglieder zur Niederlegung der Arbeit an diesem Donnerstag auf. Gewerkschafter sollten stattdessen am Arbeitsplatz der Toten gedenken. Der Gewerkschaftsbund sprach im Zusammenhang mit der Katastrophe vom größten „Mord“ am Arbeitsplatz in der Geschichte der türkischen Republik, gegen den protestiert werden müsse. Bei TÜRK-IS sind 35 Einzelgewerkschaften organisiert.
Größter Kohleproduzent
Die 1984 als Soma Kömür A.S. gegründete Gesellschaft betreibt die Unglücksmine seit 30 Jahren. Soma ist mit 5,5 Millionen Tonnen Jahresproduktion einer der größten Kohleproduzenten der Türkei.
Die Website des Bergbauunternehmens Soma Holding war kurzzeitig nicht erreichbar. In einem kurzen Statement auf der Homepage erklärte der Vorstand des Unternehmens, „der Unfall passierte trotz höchster Sicherheitsmaßnahmen und ständiger Kontrollen“. Eine Untersuchung des Unglücks sei eingeleitet worden, heißt es dort weiter. Soma Holding beschäftigt an die 5.500 Minenarbeiter in ihrem Werk in Soma.
Kosten auf 24 Dollar pro Tonne gedrückt
Vertreter des Unternehmens sind Medienangaben zufolge nicht erreichbar. Wie der Vorstandsvorsitzende der Soma Holding, Alp Gürkan, in einem vor zwei Jahren geführten Interview mit der Zeitung „Hürriyet“ betonte, hätten sich die Kosten für den Kohleabbau durch private Betreiber stark reduziert. So habe sein Unternehmen als Betreiber der Mine die durchschnittlichen Abbaukosten von 130 bis 140 Dollar pro Tonne auf 23,8 Dollar senken können.
Möglich sei das dadurch geworden, dass das Unternehmen die elektrischen Transformatoren nicht importiere, sondern selbst herstelle. Zudem würden Leiharbeiter über Subunternehmer angeheuert. Sie seien billiger als Arbeiter, die sich in der Kohlegewerkschaft Maden-Is organisiert hätten.
Auch Jugendliche als Arbeiter in Mine?
Türkische Gewerkschaften beklagen seit Jahren, dass die Regierung die Betreiber privater Minen zu wenig kontrolliert. Es herrsche eine jahrelange Praxis der Beschäftigung von nicht ausreichend eingeschulten Arbeitern, die über Subunternehmer angeheuert würden. In Soma dürften offenbar auch Jugendliche in die Mine geschickt worden sein. Die Zeitung „Hürriyet“ (Onlineausgabe) zeigte am Mittwoch ein Video, auf dem ein Mann beklagt, er habe seinen 15 Jahre alten Neffen bei dem Unglück in der Zeche Soma verloren.
Energieminister Taner Yildiz sagte dagegen laut „Hürriyet“, es könne nicht sein, dass ein 15-Jähriger in einem Bergwerk arbeite. Auch sei niemand mit dem von dem Mann genannten Namen und in dem Alter unter den Toten. Unter Tage dürfen laut Gesetz nur über 18-jährige Männer arbeiten. Regierungschef Recep Tayyip Erdogan kündigte umfassende Ermittlungen an. Die Unglücksursache müsse „vollständig“ untersucht werden, so Erdogan bei einer Pressekonferenz. „Wir werden keine Nachlässigkeit dulden“, sagte er.
Bergbau mit höchster Unfallrate
In der Türkei wurden laut Angaben des Energieministeriums im Jahr 2012 rund 78 Millionen Tonnen Braunkohle abgebaut. Der Bergbau ist auch die Branche mit der höchsten Unfallrate. Mehr als zehn Prozent aller Arbeitsunfälle in der Türkei betrafen im Vorjahr den Kohleabbau. Seit 1941 kamen mehr als 3.000 Minenarbeiter bei Unglücken ums Leben. Im Jahr 2008 verloren für den Abbau einer Million Tonne Kohle rechnerisch gesehen 7,22 Menschen ihr Leben, so das türkische Wirtschaftsforschungsinstitut TEPAV. Die Zahl ist seit 2004, als die Todesrate bei 5,14 lag, wieder im Steigen begriffen.
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