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„Niemand ist sakrosankt“

Die Affäre Wulff, die weit über den im Prozess verhandelten Gegenstand hinausgeht, wird wohl Teil der deutschen Mediengeschichte - und damit auch eine Geschichte über das Verhältnis von Medien und Politikern. Hier hatte ein Politiker die Medien sehr gut für seine Interessen genutzt, sich aber in einem heiklen Fall mit ihnen überworfen.

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„Wenn man als Ministerpräsident keine Freunde mehr haben darf und wenn alle Politikerinnen und Politiker in Deutschland ab sofort nicht mehr bei Freunden übernachten dürfen, sondern, wenn sie bei den Freunden im Gästezimmer übernachten, nach einer Rechnung verlangen müssen, dann verändert sich die Republik zum Negativen.“ So drückte es Christian Wulff 2012 in einem Interview mit ARD und ZDF zur Affäre seines Privatkredits und der umstrittenen Mailbox-Nachricht bei „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann aus. Ob alles, was danach kam, eine Medienkampagne war, wird die Geschichte weisen. Wulff hatte als Politiker handwerkliche Fehler gemacht.

Wulff und das Verhältnis zu Volkswagen

In seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident wurde Wulff als Kanzlerhoffnung in der CDU gehandelt. Wulff positionierte sich damals als niedersächsischer Ministerpräsident als prominenter Gegenspieler der von SPD-Kanzler Gerhard Schröder in Gang gebrachten Hartz-IV-Reform. Peter Hartz, VW-Personalchef, SPD-Mitglied und enger Berater des Kanzlers, war Vordenker dieser Reform, die allerdings nie nach seinem Plan eins zu eins umgesetzt wurde, aber bis zum heutigen Tag seinen Namen trägt. Hartz war als Personalchef von VW auch auf anderer Ebene ein Gegenüber von Wulff, der das Land Niedersachsen, das mit über 20 Prozent an VW beteiligt ist, im VW-Aufsichtsrat vertrat.

Ferdinand Piech (L) mit Christian Wulff (R)

APA/EPA/Holger Holleman

Wulff forderte indirekt auch Ferdinand Piech bei VW heraus

Wulff, der 2003, im Jahr des Inkrafttretens der Hartz-IV-Reformen, niedersächsischer Ministerpräsident wurde, war ein Gegner der engen Verbindung von IG Metall, SPD und Ferdinand Piech bei VW. Seinen idealen Partner im Aufräumen bei VW wollte Wulff im damaligen Volkswagen-Chef Bernhard Pischetsrieder, der von BMW gekommen war, gefunden haben. Doch Pischetsrieder zog sich mit seiner Kritik an der Modellpolitik bei VW den Ärger Piechs zu.

„Wulff-Macher“ versus Hartz

Wulff wollte sich ab 2003 als Hartz-IV-Kritiker profilieren - angetrieben und beraten von seinem Pressesprecher Olaf Glaeseker. Glaeseker, in Medienkreisen gerne als „der Wulff-Macher“ apostrophiert, der seine Karriere als Sprecher der CDU in Niedersachen begonnen hatte, unterhielt vor allem gute Kontakte zum Nachrichtenmagazin „Focus“.

Christian Wulff neben Regierungssprecher Olaf Glaeseker

dapd/Nigel Treblin

Der frühere „Wulff-Macher“ Olaf Glaeseker (l.) im Rahmen einer Wahlkampftour

Im „Focus“ erschien im Juni 2005 ein Artikel, in dem Untreuvorwürfe gegen hochrangige VW-Manager, darunter gegen den damaligen Skoda-Personalvorstand Helmuth Schuster, den Ex-Betriebsratschef Klaus Volkert und den früheren VW-Personalmanager Klaus-Joachim Gebauer thematisiert werden. Gebauer ließ zu seiner Entlastung, wie eine ARD-Dokumentation zum 70. Geburtstag von Hartz jüngst erinnerte, tief in das „Innenleben“ bei VW blicken. Thema waren Lustreisen der VW-Betriebsräte auf Firmenkosten, in denen auch bezahlter Sex eine Rolle spielte.

Bernd Pischetsrieder mit Christian Wulff unter dem Schriftzug der Volkswagen AG

dapd/Roland Magunia

Allianz ohne Erfolg: System Piech blieb, dafür musste Pischetsrieder gehen

„Persönlichkeiten kaltstellen“

Der FDP-Politiker und Gebauer-Anwalt Wolfgang Kubicki, der auch sonst zu jedem Vorgang in Deutschland Stellung beziehen muss, äußerte vor Jahren gegenüber der ARD die Vermutung, dass es damals galt, „einige hochrangige Persönlichkeiten“ innerhalb des Volkswagen-Konzerns „kaltzustellen“. Piech, so Kubicki retrospektiv, habe auch mit Hilfe dieser Affäre alle eigenen Interessen im Konzern durchgesetzt.

Hartz soll im Juli 2005 einen Anruf bekommen haben, dass die „Bild“-Zeitung einen Artikel über eine Verbindung zwischen ihm und einer brasilianischen Prostituierten zum Thema machen würde. Zur gleichen Zeit war Wulff in den Medien, der davon sprach, dass es auch für den Personalchef von VW, so er von allen Vorgängen in dem von ihm verantworteten Bereich gewusst habe, „keinen Persilschein“ gebe. Hartz bot, nachdem seine Verwicklung in die Affäre evident war, seinen Rücktritt an. VW stellte daraufhin einen Strafantrag wegen des Verdachts der Begünstigung von Betriebsräten.

Hartz räumte bei einer Vernehmung eine „strafrechtliche Verantwortlichkeit für Begünstigungen des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden“ ein. Im Jänner 2007 bestätigte Hartz vor Gericht, den früheren Betriebsratschef Volkert „gekauft“ zu haben. Er wurde zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe von 360 Tagessätzen verurteilt - gemessen an den Einkünften von Hartz umgerechnet 576.000 Euro.

System Piech war nicht zu stürzen

„Niemand ist sakrosankt“, hatte Wulff im Juli 2005 medial wirksam verlauten lassen. Gegen das System Piech unterlag er ebenso wie sein einstiger Verbündeter Pischetsrieder, der 2006 von Martin Winterkorn an der VW-Spitze abgelöst wurde. Der einst mächtige IG-Metall-Chef Jürgen Peters erinnerte sich gegenüber der ARD an die Stimmung in der Zeit zwischen 2003 und 2005: „Der Sumpf sollte trockengelegt werden, wie da einige sagten.“

Wulff war die Rolle der Medien und die Nähe zu Medien bei der Durchsetzung politischer Interessen bewusst. Dass 2012 sogar die Springer-Presse, die nicht zuletzt die junge Ehe von Christian und Bettina Wulff so gerne thematisierte, auf Distanz ging, erstaunte politische Beobachter, etwa den Journalisten Jakob Augstein.

Der Moderator Günther Jauch thematisierte in seiner ARD-Talksendung Gerüchte, die in Berlin über das Vorleben der Präsidentengattin zirkulierten und die angeblich unter Verschluss gehalten würden. Er stellte damals bloß eine Frage, zu der im Raum niemand eine Antwort geben konnte und noch weniger wollte.

Ein neues Leben für Christian Wulff

Menschen, die Wulff nicht nur Gutes wollten, versorgten die Medien mit Material. Man könnte sagen: analog dem Modell Wulff-Glaeseker. Mittlerweile hat sich viel geändert. Wulff steht vor einem neuen Leben, getrennt von seiner Frau Bettina, die der VW-Aufsichtsrat einst in deren Rolle als Pressesprecherin von Continental kennengelernt hatte.

Gerald Heidegger, ORF.at