„Hunger tötet deine Seele“
Für die syrische Armee ist Hunger längst die effektivste Waffe im Kampf gegen Regimegegner und Zivilisten geworden. Seit 2012 werden Versorgungswege systematisch unterbrochen und ganze Städte von Lieferungen abgeschnitten. Doch der „Krieg“ ums Brot hat schon lange vor den ersten Protesten gegen Baschar al-Assad im März 2011 begonnen.
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Der Überlebenskampf der syrischen Zivilbevölkerung hat 2012, rund ein Jahr nach dem Beginn der Aufstände gegen Machthaber Assad, eine völlig neue Dimension erreicht. Da entdeckte die syrische Armee Bäckereien als lohnende Ziele. In der Stadt Aleppo starben innerhalb weniger Tage Dutzende Menschen, als Assad Warteschlagen vor den Geschäften bombardieren lies. Die Taktik dahinter ist klar: Nichts lässt sich leichter kontrollieren als hungernde Menschen.
Homs seit 22 Monaten belagert
Heute, zwei Jahre später, hält die Armee Dutzende Städte von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Vergangene Woche versuchten internationale Organisationen, Lebensmittel und Medikamente in die seit 22 Monaten belagerte Stadt Homs zu liefern. 1.417 Menschen wurden befreit, doch unmittelbar nach dem Verlassen der Stadt wurden Männer und Buben von ihren Familien getrennt und von den syrischen Behörden für „Resozialisierungsmaßnahmen“ inhaftiert. Die abgemagerten Männer boten keinen Widerstand.
Das Aushungern von Zivilisten ist seit 1977 im Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen als Kriegsverbrechen deklariert. Doch die Nachrichten über verhungernde Kinder, wie sie im Juni 2012 aus Mouadhamiyah publik wurden, haben lange nicht so große internationale Empörung ausgelöst wie der Einsatz von chemischen Waffen. Dabei sind die langfristigen Effekte der Hungerkatastrophe in Syrien viel verheerender, wie das britische Onlinemagazin NewStatesman berichtet.
Tödlicher Kreislauf in Syrien
Denn die Situation setzt einen tödlichen Kreislauf in Gang. Die hungernde Bevölkerung ist besonders empfänglich für extremistische Tendenzen und öffnet radikalen Gruppierungen Tür und Tor. Die wachsende Radikalisierung wiederum wird von der Regierung als Argument vorgebracht, um noch brutaler gegen die Bevölkerung vorzugehen. Zudem werde von Assad behauptet, dass „beide Seiten“ die Belagerungstaktik anwenden würden, heißt es in dem NewStatesman-Artikel. Eine Behauptung, die von syrischen Oppositionsvertretern als lächerlich zurückgewiesen wird.
Brotpreise stiegen um das 20-Fache
Hungerkatastrophen sind für Syrer aber nichts Neues. Im ersten Weltkrieg blockierten die Entente-Mächte, bestehend aus England, Frankreich und Russland, die Seewege vor Großsyrien (das damals noch die Gebiete um Libanon, Palästina, Jordanien und Israel umfasste). Zu Kriegsende war jeder achte Syrier gestorben, in einigen Gebieten war ein Drittel der Bevölkerung verhungert.
Heute bedient sich Assad derselben Logik wie die Weltkriegsmächte: die Unterstützung für die Rebellen untergraben, indem man die Zivilbevölkerung dort trifft, wo sie am verwundbarsten ist - bei der täglichen Versorgung. Im Dezember 2012 kostete Brot 20-mal so viel wie vor den Aufständen. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen kürzte seine Rationen von 1.300 Kalorien auf 1.000 Kalorien am Tag. Als die Rebellen der Freien Syrischen Armee im Dezember 2012 die westsyrische Stadt Halfaya einnahmen, hatten die Menschen dort seit einer Woche kein Brot mehr bekommen.
Anschläge auf Dutzende Bäckereien
Als die Bäckerei dank Hilfslieferungen wieder öffnete, bildete sich sofort eine lange Schlange - das perfekte Ziel für einen Angriff. Die Bomben des Assad-Regimes töteten am 22. Dezember fast 100 Menschen. Pulitzerpreisträger Roy Gutman untersuchte für die US-Zeitung „McClatchy“ Berichte von Angriffen auf Bäckereien und kam dabei auf 80 bestätigten Anschläge durch Regierungstruppen mit mehr als 200 Toten. Doch die Konsequenzen für das Regime beschränkten sich auf ein Protestschreiben des Roten Kreuzes.
Das Regime von Assad sitzt unterdessen so fest im Sattel wie schon lange nicht mehr. Alle Versuche, Friedensgespräche in Gang zu bringen, scheiterten. Und die Zeit spielt Assad in die Hände. Denn die Opposition verliert unter der hungernden Bevölkerung immer mehr an Unterstützung. Der Aktivist und Oppositionsanhänger Qusai Zakarya versuchte im vergangenen Jahr mittels eines Hungerstreiks auf die unhaltbare Situation in dem von Regierungstruppen kontrollierten Damaszener Vorort Moadamiya aufmerksam zu machen.
Auf Facebook erntete er für seine Bemühungen gerade einmal 8.500 Likes. Aber als er auch Bilder von verhungernden Kindern postete, riegelte das Regime die Stadt völlig ab. Wer versuchte, die Stadt zu verlassen, wurde von Scharfschützen erschossen. Es dauerte nicht lange und selbst die letzten Lebensmittel gingen zur Neige.
Oppositionsführer gegen Hilfslieferung getauscht
Die Regierung forderte die Übergabe von Zakarya und weiterer Oppositionsführer, als Gegenleistung boten sie Lebensmittellieferungen an. Anfang Februar - nach mehr als einem Jahr Blockade - ergab sich Zakarya. Er sitzt seitdem in Haft. „Glaubt mir, ich habe alle Waffen gesehen, die Assads Regime zur Verfügung hat“, sagte er im Jänner in einem Interview mit NewStatesman: „Aber nichts ist vergleichbar mit dem Hungertod. Denn der Hunger tötet zuerst deine Seele, bevor es deinen Körper zerstört.“
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