Gewalt eskaliert
Kiew kommt nicht zur Ruhe: Trotz einer vereinbarten Waffenruhe zwischen Demonstranten und der Regierung entflammten Donnerstagfrüh neue Straßenschlachten. Das ukrainische Parlament sagte seine für Donnerstag und Freitag geplanten Sitzungen kurzfristig ab. Der frühere Parlamentspräsident Wladimir Litwin kündigte eine Evakuierung des Gebäudes an. Gründe nannte der fraktionslose Abgeordnete zunächst nicht.
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In Kiew waren trotz des vereinbarten Gewaltverzichts neue Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei ausgebrochen. Demonstranten warfen Feuerwerkskörper und Brandsätze auf die Sicherheitskräfte, die Tränengas abfeuerten. Auch Schüsse fielen. Laut unbestätigten Aussagen liefen Dutzende Rekruten von Truppen des Innenministeriums zu den Regierungsgegnern über.
Todeszahl unklar
Mehrere Menschen wurden am Donnerstag getötet. Die Angaben zur Zahl der Todesopfer sind sehr widersprüchlich. Das Präsidialamt spricht davon, dass es in den Reihen der Sicherheitskräfte Dutzende Tote und Verletzte gebe. Aufseiten der Regierungsgegner gab es Medienberichten zufolge mindestens sieben Tote. Ein Reuters-Reporter berichtete gar von 21 Leichen auf und rings um den Maidan. Bei ihnen soll es sich um Zivilisten handeln. Die Opposition bestätigte lediglich, dass es mehrere Todesopfer gibt. Die ukrainische Zeitung „Kiew Post“ berichtete gar von 35 Toten - die meisten von ihnen mit Schusswunden.
Klitschko: „Situation außer Kontrolle“
Radikale Demonstranten drangen ins Regierungsviertel vor. Die Sicherheitskräfte zogen sich zurück, wie örtliche Medien berichteten. Der Oppositionspolitiker Witali Klitschko machte die Polizei für den Bruch des vereinbarten Gewaltstopps verantwortlich. „Wir sehen die Situation außer Kontrolle“, sagte Klitschko nach einem Treffen mit den Außenministern aus Deutschland, Polen und Frankreich in Kiew. „Die Regierung hat vor den Augen der gesamten Welt zu blutigen Provokationen gegriffen“, hieß es in einer Mitteilung Klitschkos vom Donnerstag. „Bewaffnete Verbrecher wurden auf die Straßen gelassen, um Menschen zu verprügeln.“

Reuters/Vasily Fedosenko
Die angespannte Lage in der Nacht schlug Donnerstagfrüh erneut in Gewalt um
Dutzende Abgeordnete der ukrainischen Regierungspartei sprachen sich angesichts der tödlichen Auseinandersetzungen in Kiew für eine Beteiligung der Opposition an der Macht aus. So solle aus den Reihen der Regierungsgegner das einflussreiche Amt des Parlamentspräsidenten besetzt werden. Das teilte der frühere Vizeregierungschef Sergej Tigipko am Donnerstag stellvertretend über Facebook mit. Zudem müsse die Regierung umgebildet werden.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Das ukrainische Präsidialamt warf der Opposition vor, sie habe nur zum Schein und zur Vorbereitung neuer Angriffe einem Gewaltverzicht zugestimmt. „Das waren nur Manöver“, teilte die Kanzlei von Janukowitsch mit. „Alle Versuche der Behörden zu einem Dialog und zu einer friedlichen Lösung des Konflikts wurden von den Militanten ignoriert“, hieß es. Die Radikalen hätten tödliche Waffen eingesetzt.
Die ukrainische Regierung beschuldigte die Demonstranten, gezielt auf Sicherheitskräfte geschossen zu haben. „Scharfschützen“ der radikalen Regierungsgegner würden im Stadtzentrum Mitglieder der Spezialeinheit Berkut sowie Truppen des Innenministeriums ins Visier nehmen. Die Opposition warf der Führung den Einsatz von Schusswaffen vor. Auch in vielen Städten im Westen des Landes blieb die Lage angespannt. In der Großstadt Lwiw patrouillierten sogenannte Selbstverteidigungskräfte in den Straßen. Die antirussisch geprägte Gegend ist eine Hochburg radikaler Regierungsgegner.
EU-Ministertrio trifft Janukowitsch
Entgegen vorherigen Meldungen finden die Gespräche der drei angereisten EU-Außenminister mit Präsident Viktor Janukowitsch statt. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und seine Kollegen aus Frankreich und Polen, Laurent Fabius und Radoslaw Sikorski, seien nicht aus Kiew abgereist, teilte das Außenministerium des Landes mit. Zu dem Treffen mit Janukowitsch seien weder Journalisten noch TV-Kameras zugelassen, berichtete ein dpa-Journalist.
Am Mittwoch wurden innerhalb der EU die Rufe nach Sanktionen gegen die Führung um Janukowitsch lauter. Die Außenminister wollen bei einem Sondertreffen am Donnerstagnachmittag „finanzielle Sanktionen und Visabeschränkungen“ gegen die politische Führung beschließen.
Russland verurteilt geplante Sanktionen
Der russische Außenminister Sergej Lawrow wandte sich in scharfen Worten gegen die geplanten Sanktionen gegen die Ukraine. Lawrow bezeichnete die Maßnahmen am Donnerstag als „Erpressung“, meldete die Nachrichtenagentur RIA. Das Moskauer Außenministerium warnte, dass Sanktionen „die Konfrontation nur noch verschärfen“ würden. Ministerpräsident Dimitri Medwedew machte indes die weitere Zusammenarbeit Russlands mit der Ukraine von der Rechtmäßigkeit der Kiewer Führung abhängig. Für eine vollwertige Partnerschaft sei es notwendig, dass die ukrainischen Machthaber legitim seien und „nicht als Lappen zum Schuhputzen“ benutzt werden, sagte Medwedew am Donnerstag laut der Agentur Interfax.

APA/EPA/Darek Delmanowicz
Hunderte friedliche Demonstranten versammelten sich Mittwochnacht auch in Lwiw
Tausende Demonstranten weiter auf Maidan
Die Waffenruhe war von Anfang an als fragil angesehen worden. Die Opposition um Vitali Klitschko und Arseni Jazenjuk hat nach Ansicht von Beobachtern keine volle Kontrolle über radikale Kräfte. Auf dem Maidan harrten auch in der Nacht Tausende Demonstranten aus. Ein Ring aus brennenden Barrikaden sollte den Platz gegen mögliche Räumungsversuche sichern.
Die Oppositionsführer hatten sich am Abend zunächst kurz mit Janukowitsch getroffen. Danach tagten sie auch mit Präsidialamtschef Andrej Kljujew und Justizministerin Jelena Lukasch. „Heute ist die Hauptsache, das Blutvergießen zu stoppen, das von der Regierung provoziert und entfacht wurde“, sagte Klitschko anschließend. Die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko rief hingegen zum Aufstand auf. „Wir müssen die Diktatur beseitigen, jetzt und für immer“, hieß es in einer Mitteilung der Ex-Regierungschefin.
28 Tote bereits davor
Bei schweren Zusammenstößen waren in der Nacht auf Mittwoch auf dem Maidan mindestens 28 Menschen getötet und vermutlich mehr als 1.000 verletzt worden. Die Todeszahl wurde am Donnerstag weiter nach oben korrigiert. Am Mittwochabend tauschte Präsident Janukowitsch kurzfristig den Generalstabschef aus. In die blutigen Ereignisse der Nacht hatte das Militär nicht eingegriffen. Janukowitsch erklärte den Donnerstag zum landesweiten Tag der Trauer.
Wechsel an Armeespitze
Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch ernannte Marinechef Admiral Juri Iljin zum neuen Armeechef. Dessen Vorgänger, Generaloberst Wolodimir Samana, wurde zum Mitglied des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates ernannt. Eine Erklärung für den Wechsel und den Zeitpunkt gab es nicht.
Befugnisse von Militär ausgeweitet
Nach Wochen angespannter Ruhe waren die Massenproteste gegen die prorussische Regierung in Kiew am Dienstag in schwere Straßenschlachten umgeschlagen. Der Geheimdienst SBU bezeichnete das Vorgehen der Opposition als „konkrete Terrorakte“ und kündigte eine „Anti-Terror-Aktion“ gegen extremistische Gruppierungen im ganzen Land an. Das Militär teilte mit, es sei befugt, daran teilzunehmen. Am Abend hieß es vom Verteidigungsministerium, die Streitkräfte hätten dabei das Recht zum Schusswaffengebrauch.
Zudem hätten die Soldaten das Recht, „den Verkehr von Fahrzeugen und Fußgängern einzuschränken oder zu untersagen“. Die Soldaten dürfen demnach auch Personenkontrollen vornehmen und Menschen festnehmen, die „illegale Handlungen“ vorgenommen haben.
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