Ende der nationalistischen Pattstellung?
Kroatien ist in der EU, Serbien hat mit Beitrittsverhandlungen begonnen - und in Bosnien-Herzegowina regiert weiterhin der nationalistische Stillstand. Zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Bürgerkriegs haben die Bosnier nun offenbar die Nase voll von ihren Politikern. Ausgehend von der Stadt Tuzla hat sich in Windeseile eine landesweite Protestbewegung gegen die regierenden „Aasgeier“ formiert.
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Die Sozialproteste überschreiten dabei die ethnischen Grenzen. Am Freitag wurde im herzegowinischen Mostar, der mehrheitlich bosniakischen Hauptstadt Sarajevo und der bosnisch-serbischen Hauptstadt Banja Luka demonstriert. „Es lohnt sich nicht zu schweigen, es wird nur noch schlimmer werden“, war dort am Freitag auf einem Transparent zu lesen.
Was bringen Wahlen?
„Nehmt die Aasgeier fest“, wurde in Sarajevo skandiert. Die Protestwelle erfasste 33 Städte, in Tuzla und Zenica brannten Regierungsgebäude. In Sarajevo konnte die Polizei auch mit dem Einsatz von Gummigeschoßen und Blendgranaten nicht verhindern, dass das Gebäude der Kantonalregierung besetzt wurde. In Brcko wurde der Bürgermeister gekidnappt.
Ob es sich um eine nachhaltige Abkehr von der nationalistisch dominierten Politik handelt, muss sich noch weisen, spätestens bei den nächsten Wahlen. Noch heuer sollen die Posten im byzantinischen Machtsystem Bosnien-Herzegowinas neu besetzt werden. Bisher hatten Serben, Bosniaken und Kroaten den nationalistischen Parteien allem Unmut zum Trotz die Stange gehalten.
Politische Blockade
Mit dem Friedensvertrag von Dayton im November 1995 war zwar der blutige Konflikt in der früheren jugoslawischen Teilrepublik beendet worden, zugleich wurde aber ein kompliziertes Staatsgebilde auf die Beine gestellt, dessen Akteure sich gegenseitig blockieren. Die Zentralregierung in Sarajevo hat kaum Kompetenzen, im gesamtstaatlichen Parlament formieren sich die Fronten regelmäßig nach ethnischen Linien. Wichtige Gesetzesvorhaben können oft erst auf massiven Druck der Europäischen Union beschlossen werden.
Korruptionsanfällige Regionalregierungen
Der größere Landesteil, die Bosniakisch-Kroatische Föderation, ist darüber hinaus noch auf zehn Kantone aufgeteilt. Deren Regierungen gelten als besonders korruptionsanfällig. Es ist wohl kein Zufall, dass sich die Protestwelle zunächst gegen ein Kantonsregierung richtete.
Dem Regierungschef des Kantons Tuzla, Sead Causevic, wird Versagen angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in der Region vorgeworfen. Durch die Pleite von vier Betrieben sollen dort 10.000 Menschen ihren Job verlieren. Schon jetzt sind im Kanton Tuzla 100.000 Menschen arbeitslos, im ganzen Land sind es 500.000. Das entspricht fast der Hälfte der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung.
Erste Proteste schon im Vorjahr
Dass die Unzufriedenheit der Bosnier mit ihren Politikern wächst, zeigte sich bereits im Vorjahr. Damals kam es zu Protesten, weil sich das Parlament nicht auf eine Neuregelung der Personalregisternummern einigen konnte.
Die bosnischen Serben blockierten den Beschluss, weil die Verwaltungseinheiten die von Banja Luka argusäugig verteidigten Entitätsgrenzen schnitten. So konnten monatelang keine neuen Personalausweise ausgegeben werden. Tragische Folge: Ein Baby starb, weil es aufgrund fehlender Dokumente nur mit großer Verzögerung zur dringenden medizinischen Behandlung nach Belgrad gebracht werden konnte.
Endlich Kurswechsel?
Wie trist die Lage in Bosnien ist, zeigt auch die Tatsache, dass der im Jahr 2009 als „Abwickler“ der internationalen Präsenz in Sarajevo eingesetzte österreichische Diplomat Valentin Inzko mittlerweile der längstdienende aller bisherigen Bosnien-Beauftragten ist.
Kürzlich rief er die zerstrittenen Politiker in Bosnien gar auf, sich ein Beispiel an Serbien zu nehmen. „Nur mit einem deutlichen Kurswechsel schafft Bosnien und Herzegowina den Anschluss an die Region, die klar in Richtung EU-Beitritt voranschreitet“, betonte er. Vielleicht wurde dieser Kurswechsel mit den jetzigen Protesten eingeläutet.
Stefan Vospernik, APA