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Dutzende Verletzte

Zehntausende Bosnier haben am Freitag gegen die Politiker ihres Landes demonstriert, denen sie Unfähigkeit und Korruption vorwerfen. Dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei und schweren Verwüstungen. In Sarajevo stürmten Demonstranten das Gebäude des Staatspräsidiums. Auch in anderen Städten kam es zu schweren Krawallen.

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In Sarajevo wurden vor dem Gebäude des Staatspräsidiums geparkte Autos in Brand gesetzt. Ein Reuters-Reporter berichtete, Regierungsgegner hätten Fenster des Gebäudes eingeworfen und eine Fackel ins Innere geworfen. Laut Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur FENA soll ein Trakt des Gebäudes in Brand gesetzt worden sein.

Die Polizei war mit Wasserwerfern vor dem Gebäude in Stellung gegangen und setzte Plastikgeschoße und Blendgranaten ein. Auch das Gebäude der Kantonalregierung in der bosnischen Hauptstadt wurde besetzt. Dort wurden ebenfalls Autos angezündet.

Demonstrantin und Polizisten

APA/EPA

Bürger auf Konfrontationskurs mit der Polizei

Rund 80 Verletzte gab es durch die Zusammenstöße, mehrheitlich Polizisten. Dutzende Verletzte gab es in anderen Landesteilen, wo ebenfalls protestiert wurde. Die Protestwelle gegen Armut, Arbeitslosigkeit und die als korrupt und ineffizient wahrgenommene Politik hat mittlerweile 33 Städte erfasst.

Auch in Tuzla Amtsgebäude gestürmt

In der nordbosnischen Stadt Tuzla hatten bereits davor zahlreiche Demonstranten das Gebäude der Regionalregierung gestürmt und es in Brand gesetzt. Mehr als 6.000 Demonstranten applaudierten den jugendlichen Aktivisten. Hunderte Polizisten, die den Verwaltungssitz zuvor bewacht hatten, zogen sich zurück.

Sie riegelten stattdessen ein zehnstöckiges Gebäude in der Nähe ab, in dem die Notdienste der Stadt untergebracht sind. Aus dem ersten Stockwerk des Gebäudes drangen Flammen und dichter schwarzer Rauch. Demonstranten im Gebäude verhinderten das Löschen des Brandes durch die Feuerwehr.

Demonstranten in Tuzla

Reuters/Dado Ruvic

In Tuzla nam die Protestwelle ihren Ausgang

Erste Rücktritte

In der Stadt Zenica wurde ebenfalls das Gebäude der Regionalregierung gestürmt und in Brand gesetzt, ebenso in Mostar. Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es auch in der Stadt Bihac. In Brcko nahmen die Demonstranten Bürgermeister Ante Domic, der die Situation zu beruhigen versuchte, gefangen.

Am Freitag führten die Proteste zu ersten Rücktritten: In Tuzla reichte Regierungschef Sead Causevic am Nachmittag seinen Rücktritt ein. In Zenica sind Medienberichten zufolge Premier Munib Husejnagic und alle zehn Minister zurückgetreten.

10.000 Jobs weg

Anlass für die Proteste in Tuzla waren die Konkursverfahren von fünf ortsansässigen Firmen, wodurch etwa 10.000 Personen ihren Job verlieren dürften. Schon in den vergangenen Jahren war Tuzla besonders schwer von Fabrikschließungen betroffen. Einer der Anführer des Protests in Tuzla, Aldin Siranovic, forderte in einer Rede an die Menge den Rücktritt der Regierung. „Sie bestehlen uns seit 25 Jahren und zerstören unsere Zukunft“, rief er zur Begründung.

Ein Treffen mit Causevic hatten die Demonstranten am Freitag abgelehnt. Dieser wollte sich mit Belegschaftsvertretern in zu schließenden Betrieben treffen. Die Demonstranten beharren jedoch darauf, dass Causevic seinen Posten räumt. Einem Bericht der Tageszeitung „Dnevni avaz“ zufolge wurde er auch vom Regierungschef der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, Nermin Niksic, zur Demission aufgefordert. Causevic habe das bei einem Treffen am Donnerstagabend jedoch abgelehnt.

„Wir tragen die ganze Schuld“

„Wir tragen die ganze Schuld“, sagte der Vorsitzende des bosnischen Staatspräsidiums, Zeljko Komsic, am Freitagnachmittag. Die Behörden hätten bereits vor drei Tagen mit den Demonstranten in Tuzla reden müssen, wo die Protestwelle begonnen hatte. Er wisse auch nicht, ob die Staatsinstitutionen überhaupt in der Lage seien, zu funktionieren. „Aus der Anarchie kann allerdings nichts Gutes hervorgehen“, sagte Komsic im TV-Sender der Bosniakisch-Kroatischen Föderation TVBH.

Einen Einsatz von Streitkräften gegen die Unruhestifter schloss Komsic dezidiert aus. „Wie könnte man die Truppen gegen eigenes Volk einsetzen.“ Komsic will nach eigenen Worten eine Dringlichkeitssitzung des Staatspräsidiums einberufen. Er wisse aber nicht, ob die beiden weiteren Mitglieder - Bosniake Bakir Izetbegovic und Serbe Nebojsa Radmanovic - seiner Einladung auch folgen würden, sagte er.

„Wir werden die Lage in den nächsten Stunden beobachten“, sagte der internationale Bosnien-Beauftragte Valentin Inzko. Derzeit sei die Lage noch unter Kontrolle, er schloss ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft aber nicht aus. In Bosnien-Herzegowina sind 800 Friedenssoldaten stationiert, darunter 300 Österreicher. Inzko rief die bosnischen Bürger am Nachmittag in einer Erklärung auf, „Ruhe zu bewahren“. Das Oberhaupt der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien, Husein Kavazovic, betonte, dass die begründeten sozialen Forderungen der Demonstranten keine Gewalt rechtfertigen würden.

Innenminister spricht von „Tsunami“

Der bosnische Innenminister Fahrudin Radoncic bezeichnete die Protestwelle als „Tsunami“. Er kritisierte die Regierung im größeren Landesteil, der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, als „sehr ineffizient“. Schuld an der Lage sei auch die Staatsanwaltschaft, die bei der Bekämpfung der Korruption versagte.

Er habe schon vor Monaten davor gewarnt, dass es zum „Tsunami“ der plündernden Bürger kommen würde, sagte Radoncic der Tageszeitung „Dnevni avaz“. Die Regierungen in dem bosnischen Landesteil hätten nämlich „nicht einmal ein Mindestmaß an sozialem Gefühl an den Tag gelegt“.

Der Innenminister verwies auch auf die Probleme seines eigenen Ministeriums. Dieses verfüge über keine Einsatzdaten und habe laut Gesetz keine Kompetenzen für die Polizei. Die lokalen Polizeikommandanten würden auf eigene Faust oder Anordnung der jeweiligen regionalen Regierungschefs agieren.

130 Verletzte am Donnerstag

Schon am Donnerstag waren bei schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei in Tuzla mehr als 130 Menschen verletzt worden. 30 Demonstranten und 104 Polizisten seien im Laufe des Tages in die Notaufnahme gebracht worden, sagte ein Sprecher des Krankenhauses.

Polizisten in Tuzla

APA/AP/Amel Emric

Am Donnerstag konnte die Polizei den Sturm auf das Gebäude noch verhindern

Die Polizei setzte Tränengas ein. Einige Demonstranten warfen Steine. Laut Polizei nahmen an dem Protest etwa 2.000 Menschen teil, in Medienberichten war von 7.000 Teilnehmern die Rede. Die Demonstrationen dauern seit Mittwoch an.

„Haben nichts zu verlieren“

Bis Freitag hat sich der Ruf „Diebe, Diebe“ schon auf etliche Städte in der bosniakisch-kroatischen Föderation ausgeweitet. „Nehmt die Aasgeier fest“, riefen Demonstranten in der bosnischen Hauptstadt. Am Freitag kam es erstmals auch zu einem Protest in Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska. „Es lohnt sich nicht zu schweigen, es wird nur noch schlimmer werden“, war dort auf Transparenten zu lesen. „Hast Du vielleicht Geld?“ stand auf einem großen Spruchband, das am Freitag in der Früh an einer Brücke von Visoko auftauchte.

„Das ist ein echter bosnischer Frühling“, sagte der arbeitlose Wirtschaftswissenschaftler Almir Arnaut in Tuzla unter Anspielung auf die Aufstände in der arabischen Welt in den vergangenen Jahren. „Wir haben nichts zu verlieren, und es werden immer mehr von uns auf die Straße gehen.“

Arbeitslosigkeit und politische Lähmung

Die Proteste werfen ein Schlaglicht auf die prekäre soziale Situation in dem Balkan-Land, das zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Bürgerkriegs immer noch unter internationaler Kuratel steht. Offiziellen Angaben zufolge liegt die Arbeitslosigkeit bei 45 Prozent, ein Fünftel der 3,8 Millionen Bosnier lebt in Armut. Ein durchschnittlicher Monatslohn liegt bei 420 Euro.

Eine Besserung ist nicht in Sicht, da die wirtschaftliche Erholung des Landes durch den andauernden Streit zwischen den Volksgruppen behindert wird. Die Politik wird weiterhin von nationalistischen Politikern dominiert, die über die Zukunft Bosnien-Herzegowinas uneins sind. Während die Serben nach Unabhängigkeit streben, wollen die Bosniaken als größte und verstreut über das ganze Land lebende Volksgruppe einen Zentralstaat. Die Kroaten, die immer wieder mit dem Anschluss an ihr „Mutterland“ liebäugeln, wünschen sich indes eine Aufwertung ihres Status.

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