14.000 Watt und eine Menge Zahnräder
„Musik aus der Leitung - als würde man Wasser oder Gas aufdrehen“ - mit diesem utopischen Slogan lockte Thaddeus Cahill ab 1897 scharenweise Investoren an. Die brauchte der US-Erfinder auch, denn möglich war das nur durch den Bau eines „Telharmoniums“, des wohl bizarrsten Instruments der Geschichte. Die Rechnung ging auf. Doch 1914 war die Idee schon wieder tot und Cahill bankrott.
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Der heute vergessene Cahill (1867 bis 1934) war eine ebenso schillernde wie umtriebige Persönlichkeit: Eine Schule sah das Landkind aus dem US-Mittelwesten erstmals mit 16 Jahren von innen. Schon sechs Jahre später hatte er Abschlüsse in Physik und Jus, Musiker war er nebenbei. Er wurde Erfinder und bewies dabei Weitblick - auch das Flutlicht und die elektrische Schreibmaschine waren seine Ideen. Eigentlich hätte ihn allein das reich machen müssen, wäre er nicht vom Pech verfolgt gewesen. Und nie hatte er mehr Pech als mit dem Telharmonium.
Wo ein Markt, da ein Wille
Cahill war kein Erfinder vom Typ verrückter Wissenschaftler. Er fragte sich immer zuerst, was sich gut verkaufen könnte. Ein Start-up von heute würde das Bedarfsanalyse nennen. Die ergab bei Cahill: Allein in New York lag die Summe aller Musikergagen in Restaurants, Vergnügungsparks und anderen Orten bei rund einer Million Dollar pro Jahr - auf heutige Verhältnisse umgerechnet weit über 50 Millionen Euro. Ein günstiges Konkurrenzangebot für diese Hintergrundmusik müsste eine Goldgrube sein, überlegte Cahill.
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Thaddeus Cahill
Welches Medium dazu infrage kam, war offensichtlich: Das Telefon boomte. Schon vor Cahill hatten andere versucht, Telefonleitungen zur Musikübertragung zu nützen. Sie scheiterten allesamt am Problem, das auch heute noch jeder kennt, der ein Telefonat mit Hintergrundgeräuschen führen muss: Wenn mehr als ein akustisch produzierter Ton zugleich über die Leitungen geschickt wird, kommt ein Klangbrei heraus. Cahills Schlussfolgerung: Es könnte funktionieren, wenn die Töne selbst elektrisch wären.
Prototyp brachte Kelvin ins Staunen
Es funktionierte tatsächlich: Jahrzehnte vor dem Synthesizer dachte sich der damals 30-Jährige ein System aus Magnetspulen und gegenüberliegenden Zahnrädern aus. Jede Ausbuchtung im Zahnrad ändert die Spannung in der Spule. Bringt man die Zahnräder auf Touren, wird daraus eine Schwingung. Mehr braucht es nicht für einen Ton. Mit unwirtschaftlichen Experimenten wie dem Verschicken eines einzigen Tons per Telefon wollte sich Cahill aber gar nicht lange aufhalten: Wenn, dann musste es echte Musik sein. Heißt: sehr viele Zahnräder.
Es gab aber noch ein weiteres Problem: Der Verstärker war noch nicht erfunden. Cahills Instrument musste also genau den Schalldruck selbst erzeugen, der am Ende - als Lautstärke - aus der Leitung kommen sollte. Cahill ließ sich davon nicht entmutigen und sah das nötige Maß an Generatoren vor, die schon beim Prototypen einen ganzen Raum brauchten. Nach jahrelangem Basteln konnte Cahill sein Instrument ausgewählten Opinionleadern vorführen, etwa dem Physiker William Thomson Kelvin. Der hielt es für „eine der größten Leistungen des menschlichen Gehirns“.
200-Tonnen-Monster mit zwei Bändigern
Cahills Taktik des Mystery-Marketings funktionierte. Die Anleger standen bald Schlange. Cahill machte ihnen klar, dass sie einiges investieren müssten: Erst ein Telharmonium mit verschiedensten Klangvarianten (noch viel mehr Zahnräder) könne in Konkurrenz zu echter Musik treten. Und damit man tatsächlich ein Netz von Musikabonnenten - zu einem Monatspreis von damals 50 Dollar - versorgen könne, brauche es eine Maschine von ausreichender Größe (noch mehr Generatoren). Die Investoren gaben grünes Licht, und Cahill begann mit der Arbeit.
1906 hatte Cahill das Instrument seiner Träume, das zweite von drei je gebauten Telharmonien, fertiggestellt: ein 200 Tonnen schweres, auf drei Stockwerke verteiltes Monster von je 18 Metern Länge. In einem 30 Waggons langen Zug wurde es von Cahills Werkstatt in Massachusetts nach New York übersiedelt. Bedient wurde es auf vier Klaviaturen von zwei Musikern, die auch als Maschinisten fungierten: Pausenlos mussten die Töne justiert werden, da die damaligen Generatoren nicht ruhig genug liefen, um eine gleichbleibende Tonhöhe zu garantieren.
Ein Grund zum Leben für Mark Twain
Wie sich das Instrument anhörte, kann heute nur vermutet werden. Zeitgenossen sprachen von einem „perfekten“, „reinen“ und „überirdischen“ Klang, einer zarten Kirchenorgel nicht unähnlich. Der Schriftsteller Mark Twain gab gegenüber der „New York Times“ zu Protokoll, das „Problem“ an dem Instrument sei, dass es ihn zur Abänderung seiner Pläne zwinge: Er müsse sofort seinen „Tod verschieben. Unter keinen Umständen könnte ich diese Welt verlassen, bevor ich das nicht wieder und wieder gehört habe.“
Innerhalb kürzester Zeit hatte Cahills Musikfirma 900 Aktionäre und ständig neue Kundschaft: Immer mehr New Yorker wurden beim Ausgehen von seiner Telharmonium-Musik per Lautsprecher berieselt und strömten in die eigens errichtete Telharmonic Hall am Broadway, um die Musikmaschine live zu erleben und zu staunen, dass man sie allein durch das Drehen an einem Rädchen wie eine Flöte und dann wieder wie ein Horn klingen lassen konnte.
Es geht bergab
Nun wollten die Aktionäre Geld sehen - und stießen bei Cahill auf taube Ohren. Der verbrannte den Profit durch ständige Erweiterungen des Angebots, neue technische Spielereien in der Telharmonic Hall und die Konstruktion eines dritten Telharmoniums. Die Geldgeber zogen sich zurück. Außerdem hatte Cahill unterschätzt, wie schnell sich die Telefonie ausbreiten würde: Immer öfter kam es wegen der zu geringen „Bandbreite“ zu Fehlverbindungen, und New Yorker hörten statt ihres Gesprächspartners plötzlich Mozart, Händel oder Gounod.
Vielleicht kann Cahill damit auch als Erfinder der Warteschleifenmusik gelten, damals aber brachten ihn die Rückschläge in Bedrängnis. Er wurde mit Klagen eingedeckt. Der Investorenrückzug ließ das Niveau der Darbietungen sinken, die New Yorker verloren das Interesse und meldeten ihre Abos ab. Nicht einmal die Fertigstellung des dritten Telharmoniums konnte den Trend umkehren - trotz der Präsentation einer Wahltaste, bei der man zwischen sechs verschiedenen Musikstreams von „Symphonisch“ bis „Tanzmusik“ wählen konnte.
Ein Experiment mit Folgen
Was Cahills Firma den Rest gab, war das rasende Tempo des technischen Fortschritts: 1912, zwei Jahre vor Cahills endgültigem Bankrott, wurde der Röhrenverstärker erfunden. Der löste das Problem, Töne leise durch die Gegend zu schicken und am Ende wieder laut zu machen, ein für allemal. Der Verstärker machte auch ein eher akademisches Experiment des Brasilianers Roberto Landell de Moura aus dem Jahr 1900 wieder interessant.
De Moura war im Jahr 1900 - als Cahill sein erstes Telharmonium vorstellte - der Beweis gelungen, dass man die menschliche Stimme über Kilometer hinweg unhörbar transportieren kann. Als man in die Empfängerstation schließlich die neu erfundenen Verstärker einbauen konnte, hörte sich das Experiment auf einmal ganz anders an - nämlich nach Radio. Das Abo auf die gestreamte Musik war damit überflüssig geworden, zumindest für den Rest des Jahrhunderts.
Lukas Zimmer, ORF.at
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