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Parlament berät Ausweg aus der Krise

Nach dem Rücktritt der ukrainischen Regierung dauern die Proteste der Opposition in Kiew und anderen Städten an. Bei einer Sondersitzung beriet das Parlament am Mittwoch über weitere Schritte für einen Ausweg aus der Krise. Auf der Tagesordnung stand auch eine von der Opposition geforderte Amnestie für inhaftierte Demonstranten.

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Regierungsabgeordnete forderten am Mittwoch in der Parlamentsdebatte erneut, dass vor einer Freilassung alle besetzten Gebäude und Plätze geräumt werden müssten. Zudem solle die Amnestie nicht für schwere Straftaten gelten. Die Staatsführung hatte bereits eine Amnestie unter denselben Bedingungen angeboten.

Witali Klitschko

APA/AP/Efrem Lukatsky

Witali Klitschko am Dienstag im ukrainischen Parlament

Eine frühere Abstimmung am Dienstag war im Parlament an ebendiesen Bedingungen gescheitert. Auch am Mittwoch wurde die Sitzung laut der Nachrichtenagentur AFP unterbrochen.

Abzug aus Agrarministerium

Am Mittwoch gab es erneut Gespräche zwischen Vertretern von Regierung und Opposition, wie Vizeregierungschef Sergej Arbuzow sagte, der seit dem Rücktritt von Ministerpräsident Nikolai Asarow vorübergehend die Regierungsgeschäfte führt. Nach dem Rücktritt von Asarow wurde auch diskutiert, ob der Unternehmer und frühere Außenminister Petro Poroschenko als Kompromisskandidat das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen könnte. Er hat Verbindungen zu beiden Seiten.

Als „Zeichen des guten Willens“ beendeten zahlreiche radikale Regierungsgegner ihre Besetzung des Agrarministeriums. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie Aktivisten der Bewegung Spilna sprawa (Gemeinsame Sache) am Mittwoch das Gebäude in Kiew verließen. Dabei kam es zu Handgreiflichkeiten mit mit Knüppeln bewaffnete Anhänger der rechten Partei Swoboda. Einige Aktivisten seien noch im Ministerium, sagte Alexander Daniljuk von Spilna sprawa. Die Demonstranten hatten die Behörde in der vergangenen Woche gestürmt.

Opposition will Präsidentenmacht beschneiden

Die Opposition forderte neben der Amnestie, dass der Unabhängigkeitsplatz (Maidan) und das Gewerkschaftshaus in Kiew ausgenommen werden müssten. Sie gelten als Schaltzentrale der Demonstranten. „Die Menschen sind auf die Straße gegangen, um die Situation im Land zu ändern. Jetzt zu sagen: Wir lassen die Leute nur frei, wenn die Demonstranten nach Hause gehen, ist unannehmbar“, sagte Witali Klitschko, Chef der Oppositionspartei UDAR.

Bei den Protesten gegen Präsident Viktor Janukowitsch waren mehr als 100 Menschen festgenommen worden. Die Regierungsgegner lehnen jeden Handel mit Janukowitsch ab. Sie fordern seinen Rücktritt. Erreichen will die Opposition zudem eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, die dem Präsidenten weniger Machtbefugnisse einräumte.

Erste Erfolge für Opposition

Der prorussische Staatschef hatte auf Druck der Opposition am Vortag den Rücktritt der gesamten Regierung angenommen. Das Kabinett trat bereits geschlossen zurück und ist nur noch geschäftsführend im Amt. Das Parlament hatte am Dienstag in einer Sondersitzung dafür gestimmt, die umstrittenen Gesetze zurückzunehmen, mit denen vor zwei Wochen die Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt worden war.

Parlament

APA/EPA/Sergey Dolzhenko

Ex-Präsident Leonid Krawtschuk spricht vor den Abgeordneten

Krawtschuk warnt vor Bürgerkrieg

Der frühere Präsident Leonid Krawtschuk (80) befürchtet eine dramatische Zuspitzung des Machtkampfes in seiner Heimat. „Die Ukraine befindet sich am Rande des Bürgerkriegs“, sagte der erste Präsident der Ukraine (1991-1994) am Mittwoch im Parlament unter dem Applaus der Abgeordneten. Krawtschuk appellierte Medienberichten zufolge an die Abgeordneten, das von der Opposition geforderte Amnestiegesetz für die Regierungsgegner zu beschließen.

Auch die Vaterlandspartei der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko warnte erneut vor der Gefahr einer gewaltsamen Lösung des Machtkonflikts. Sollte Janukowitsch den Ausnahmezustand verhängen und Spezialeinheiten gegen die Demonstranten einsetzen, drohe ein „Blutbad mit Hunderten Opfern“, sagte der frühere Außenminister Arseni Jazenjuk, Fraktionschef der Timoschenko-Partei. Timoschenko selbst forderte die Demonstranten auf weiterzukämpfen. Die Regierungsgegner seien auf die Straße gegangen, um den Rücktritt der ganzen Führung zu erzwingen. „Wenn ihr jetzt stoppt, ohne den vollen Sieg zu erlangen, dann werden alle Opfer verraten sein“, mahnte sie.

Klitschko: Aufstand wird viel größer

Unmittelbar vor den Parlamentsberatungen machte die Opposition weiter Druck. „Wir haben Janukowitsch sehr deutlich gemacht, dass er alle Demonstrationsverbote rückgängig und alle inhaftierten Maidan-Demonstranten freilassen muss“, schrieb Klitschko in einem Gastbeitrag für die „Bild“-Zeitung (Mittwoch-Ausgabe). „Macht er das nicht, wird der Aufstand noch viel größer werden.“ Der Präsident müsse „nur einmal auf die Straße gehen, um zu hören, wie laut die Demonstranten weiterhin seinen Rücktritt fordern.“

„Wir lassen uns von diesem Präsidenten nicht länger hinhalten“, schrieb Klitschko in seinem Gastbeitrag weiter. „Wir haben schon viel mit diesem Mann erlebt, er hat uns schon viele Versprechen gegeben und sie dann wieder gebrochen.“ Deshalb bleibe er selbst erst einmal vorsichtig und wolle „sehen, dass die Ankündigungen auch wirklich umgesetzt werden“.

Putin wartet mit Hilfszahlung

Der russische Präsident Wladimir Putin will mit der vollständigen Auszahlung der vereinbarten Milliardenhilfen an die Ukraine warten, bis dort eine neue Regierung im Amt ist. „Lasst uns warten, bis in der Ukraine eine neue Regierung gebildet ist“, sagte er am Mittwoch während einer Arbeitssitzung mit seinem Regierungschef Dimitri Medwedew. Medwedew sagte laut der Nachrichtenagentur RIA Nowosti, die Umsetzung aller Abkommen müsse „bedachtsam“ erfolgen. Das könne nur geschehen, wenn feststehe, welches die neue Regierung sei, wer in ihr arbeite und welches ihre Arbeitsgrundlagen seien.

Während des EU-Russland-Gipfels am Dienstag in Brüssel hatte Putin gesagt, dass Moskau auch bei einem Regierungswechsel in Kiew an seinem zugesagten Kredit von 15 Milliarden Dollar (knapp elf Mrd. Euro) und gesenkten Energiepreisen für die Ukraine festhalten wolle.

Um Unterstützung aus Österreich gebeten

Ukrainische Regierungsgegner baten am Mittwoch um die Unterstützung der Republik in ihrem Kampf gegen Janukowitsch. Eigenen Angaben zufolge übergaben rund 40 Aktivisten eine Petition an einen Beamten des Innenministeriums, in der gefordert wird, die Tätigkeit von Firmen im Besitz ukrainischer Politiker und Oligarchen in Österreich zu untersuchen.

Die Gruppe Demokratische Ukraine bat Innenministerin Johanna Mik-Leitner (ÖVP) und die österreichischen Behörden zudem darum, politisch Verfolgte aufzunehmen und verletzte Demonstranten medizinisch zu versorgen, sollten die Proteste in Kiew eskalieren. Auch solle Angehörigen des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Nikolai Asarow, die in Wien wohnten, der Aufenthaltstitel entzogen werden. Das sagte die Sprecherin der Regierungsgegner, Anna Jarozka, der APA.

Ashton und Füle in Kiew

Die Europäische Union (EU) setzte unterdessen ihre Reisediplomatie fort. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton reiste nach Kiew, um in dem Konflikt zu vermitteln. Am Dienstag hatte sich Präsident Janukowitsch bereits mit EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle getroffen, Ergebnisse des Gesprächs wurden nicht bekannt.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) will bei einer Eskalation des Machtkampfes in der Ukraine Sanktionen nicht ausschließen. „Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um einen Dialog zwischen den Akteuren zu ermöglichen“, sagte Schulz am Mittwoch vor der parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg. „Im Fall einer Verschlechterung sollten wir Sanktionen nicht ausschließen.“

Schulz: „Redet miteinander“

"Der Parlamentspräsident appellierte vor den Abgeordneten aus den 47 Europaratsländern an alle Akteure in der Ukraine: „Stoppt die Gewalt! Redet miteinander und findet eine friedliche Lösung für diese Krise!“ Am Donnerstag berät die Versammlung in einer Dringlichkeitsdebatte über die Lage in der Ukraine, die seit 1995 Mitglied des Europarates ist.

Die Proteste hatten sich Ende November an der überraschenden Entscheidung der Regierung entzündet, ein über Jahre mit der EU ausgehandeltes Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen. Die Regierungsgegner fürchten, dass sich die Ukraine stattdessen stärker Russland zuwendet. Die Einschränkung des Demonstrationsrechts heizte die Proteste im Jänner dann weiter an.

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