Prüfstein nach „arabischem Frühling“
Frauen hatten in Tunesien schon unter den säkularen, aber autoritären Regimen vor dem Sturz von Langzeitmachthaber Zine al-Abidine Ben Ali 2011 mehr Rechte als in anderen arabischen Staaten. Mit dem „arabischen Frühling“ und dem folgenden Erstarken islamistischer Bewegungen schien sich das Blatt für sie zu wenden. Nun scheint Tunesien das Dilemma zu lösen.
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Für zwei Artikel der neuen Verfassung, die gerade in der Beschlussphase ist, erntete Tunesien Anfang der Woche international Lob für seine Pionierrolle unter den Ländern das „arabischen Frühlings“ beim Übergang zu einer demokratischen Ordnung. Gerade die Rechte der Frau gelten hier als Prüfstein.
„Drei Jahre nach der Jasminrevolution, die den Weg zum nordafrikanischen Frühling geebnet hatte, kehrt Tunesien zu seiner Rolle als Vorreiternation der arabischen Welt zurück - und das bei dem besonders sensiblen Thema der Frauenrechte“, kommentierte etwa am Dienstag der italienische „Corriere della Sera“. „Tunesien wird in der Tat das erste Land der Region sein, das in seiner Verfassung Männer und Frauen grundsätzlich gleichstellt.“
„Ohne das Land zu spalten“
Bereits seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 und danach unter Ben Alis Vorgänger Habib Bourguiba hatten Frauen in Tunesien mehr Rechte als anderswo in der islamisch-arabischen Welt. Das hatten sie auf dem Papier allerdings auch in Ägypten unter dem 2011 gestürzten autokratischen Präsidenten Hosni Mubarak. Im letzten Jahr wurde Ägypten in einer Untersuchung der Thomson Reuters Foundation zum „schlimmsten arabischen Land für Frauen“ gekürt. Tunesien landete in der Untersuchung auf Platz 16 von 22.
Mit dem neuen Verfassungsentwurf gelinge Tunesien, was anderen Ländern der Region nicht gelungen sei, nämlich „den Übergangsprozess friedlich zu vollenden, ohne das Land zu spalten“, folgerte der „Corriere“ weiter. Erst am Montag hatte die Nationalversammlung in Tunis weitere Artikel der neuen Verfassung angenommen und dabei auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau beschlossen.
„Dieselben Rechte und Pflichten“
„Alle männlichen und weiblichen Staatsbürger haben dieselben Rechte und Pflichten. Vor dem Gesetz sind sie gleich, ohne Benachteiligung“, heißt es in Artikel 20 des Verfassungsentwurfs, der mit 159 von 169 abgegebenen Stimmen verabschiedet wurde. Das Votum über Artikel 45, der ausdrücklich Frauenrechte und Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern garantiert, ist noch ausständig.
Die Sitzung der Nationalversammlung zur Verfassung hatte am Freitag begonnen. Bis zum dritten Jahrestag der Entmachtung Ben Alis am 14. Jänner sollen die Delegierten über alle 146 Artikel und etwa 250 eingereichten Änderungsanträge abgestimmt haben. Damit die neue Verfassung in Kraft treten kann, müssen mindestens zwei Drittel der 217 Abgeordneten diese annehmen, ansonsten entscheidet das Volk darüber in einem Referendum.
Tauziehen um Scharia
Der Text ist das Ergebnis mehr als zweijähriger Debatten zwischen den regierenden Islamisten (Ennahda) und der Opposition. Der Entwurf war im Sommer nach langen Verzögerungen fertiggestellt worden, viele Abgeordnete waren jedoch unzufrieden mit dem Ergebnis. Besonders das Thema Frauenrechte und islamisches Recht (Scharia) war ein Zankapfel. Mehrfach hatte es danach ausgesehen, als bahnten sich auch in Tunesien für Frauen eher schlechtere als bessere Zeiten an.
„Sie sind die Verliererinnen der Revolution“, schrieb der deutsche „Tagesspiegel“ Ende 2011 in einer Analyse und ein Jahr später von einer „Utopie vom Tahrir-Platz“ (dem Ausgangspunkt der Massenproteste gegen Mubarak in Kairo). 2013 erschien dann das Thompson-Reuters-Ranking, in dem es hieß, Ägypten sei das „schlimmste“ Land überhaupt für Frauen. Im Irak sei die Situation heute viel schlechter als vor dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003, in Saudi-Arabien seien Frauen „zweite Klasse“, in Syrien schränke der Bürgerkrieg ihre Rechte drastisch ein.
„Postrevolutionäres Dilemma“ von Libyen bis Ägypten
Die „postrevolutionären“ Länder Ägypten, Tunesien und Libyen stünden in puncto verfassungsmäßig verbriefte Gleichstellung der Frau „vor einem Dilemma“, so der „Tagesspiegel“ damals. So sollten „die bürgerlichen Rechte der Frau nach internationalen Standards garantiert werden“, gleichzeitig wollten „die überwiegend religiösen Volksvertreter die konservativen Werte der Gesellschaften“ berücksichtigt sehen.
In Tunesien hatten sich die politischen Lager bereits 2012 darauf geeinigt, auf die Einführung der Scharia zu verzichten. Bei der Abstimmung der Verfassung wurden nun Abänderungsanträge, in denen der Koran als Grundlage der Legislatur gefordert worden war, abgelehnt. Der Islam werde „nicht die Hauptquelle“ der Gesetzgebung, heißt es in Artikel eins, der am Wochenende beschlossen wurde. Artikel zwei besagt, dass Tunesien eine auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit basierende „zivile Republik“ ist.
Schwere Krise seit dem Vorjahr
Sobald die neue Verfassung verabschiedet, ein Wahlgesetz erlassen und eine Wahlkommission ernannt werden, will die Übergangsregierung von Regierungschef Ali Larayedh die Macht an den bisherigen Industrieminister Mehdi Jomaa übergeben. Der parteilose Politiker soll dann Neuwahlen vorbereiten. Larayedh von der islamistischen Ennahda hatte sich im Oktober zum Rücktritt bereiterklärt, um die seit Monaten andauernde Krise des Landes zu beenden.
Grund für diese war unter anderem die Ermordung des linken Oppositionellen Mohammed Brahmi im Juli des Vorjahres. Die Regierung machte salafistische Extremisten für die Tat verantwortlich, die Opposition gibt der Ennahda-Partei eine Mitschuld an dem Attentat.
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