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Auch Drahtzieher bald gefasst

Noch immer gilt der „Große Postzugsraub“ vom 8. August 1963 als einer der legendärsten Coups der Kriminalgeschichte: Als sechs Gangster seine Kabine stürmten, versuchte der Lokführer noch Widerstand zu leisten. Doch ein heftiger Schlag auf den Kopf setzte ihn außer Gefecht. Mit einem manipulierten Haltesignal hatten die Angreifer zuvor den mit Geldsäcken beladenen Postzug zwischen Glasgow und London gestoppt.

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Die 15 Räuber räumten den Zug aus, luden die Beute auf die wartenden Fluchtfahrzeuge und entkamen mit einer Beute von 2,6 Millionen Pfund. Am 14. Jänner 1969 wurde Bruce Reynolds, der Drahtzieher des bis dahin größten Raubüberfalls Großbritanniens, zu 25 Jahren Haft verurteilt. Der damals 31-jährige Reynolds war das Hirn der Bande. Er hatte sich zu jener Zeit offiziell als Antiquitätenhändler aus Croydon ausgegeben. Nach dem Coup fand er aber keine Ruhe: Bis zu seiner Verurteilung lebte er fünf Jahre im Ausland auf der Flucht.

Beraubter Postzug von Glasgow nach London

AP/necho/str/N

Der Coup gilt als eines der spektakulärsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts

Farm als Versteck

Art und Ausmaß des Überfalls erinnerten an Verbrechen im Wilden Westen. In der Nähe von Oakley, in der Grafschaft Buckinghamshire, hatte sich die Bande eine Farm als Versteck gekauft. Gut 30 Kilometer Luftlinie vom Tatort entfernt hatte sie von der auf einem Hügel liegenden Farm einen guten Blick in alle Himmelsrichtungen. In der Nacht vom 7. auf den 8. August machten sich die Männer auf den Weg, um den Nachtzug um 3.05 Uhr zu stoppen und auszurauben.

Telefonleitungen gekappt

Nachdem sie Lokführer Jack Mills mit einer Eisenstange überwältigt und ihn gezwungen hatten, den Zug noch bis zur nächsten Brücke weiterzufahren, verschafften sie sich mit Äxten und Spitzhacken Zugang zu dem Waggon mit den Geldsäcken.

Da sie zuvor die Telefonleitungen an der Strecke gekappt hatten, konnte die Polizei erst benachrichtigt werden, als die Banditen ihre Farm schon wieder erreicht hatten. Lokführer Mills erholte sich von der Verletzung nicht mehr. Wegen psychischer Probleme konnte er nicht mehr arbeiten und starb 1970 schließlich an Leukämie.

Nach und nach gefasst

Fünf Tage nach dem Verbrechen führte ein Hinweis die Polizei zum Versteck der Gruppe, die die Farm zu diesem Zeitpunkt bereits leer hinterlassen hatte. Zurückgeblieben waren jedoch reichlich Fingerabdrücke, unter anderem auf einem Monopoly-Spiel, das sie mit echtem Geld aus ihrer Beute spielten. Nach und nach konnte die Polizei mehr und mehr Männer, fast alle mit einer kriminellen Vergangenheit, fassen.

„Habe Preis bezahlt“

Bandenchef Reynolds gelang jedoch die Flucht über Frankreich nach Mexiko. Erst fünf Jahre später, am 8. November 1968, konnte er während eines Aufenthalts in Torquay im Südwesten Englands gefasst werden. Gut zwei Monate später wurde er zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, zehn Jahre davon musste er verbüßen. „Im Nachhinein bin ich weder stolz darauf noch schäme ich mich - ich habe den Preis dafür bezahlt“, sagte Reynolds, als sich das Verbrechen 2003 zum 40. Mal jährte.

Aus dem Gefängnis ins Fernsehen

Finanziell gelohnt hat sich der Überfall letztlich für Reynolds und seine Kumpane nicht. Reynolds’ Anteil von 150.000 Pfund ging für das kostspielige Katz-und-Maus-Spiel mit seinen Verfolgern drauf. Im Gefängnis trug er sich mit Selbstmordgedanken, nach der zehnjährigen Haft wollte ihn niemand mehr beschäftigen. 1984 wurde Reynolds noch einmal für drei Jahre wegen Drogenhandels verurteilt.

Später wurde der ehemalige Bandenchef ein gern gesehener Gast im Fernsehen. Unter anderem überreichte er 2002 den TV-Preis Telestar an den kürzlich gestorbenen Schauspieler Horst Tappert, der ihn 38 Jahre zuvor im deutschen Postraubfilm „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ verkörpert hatte. Reynolds starb heuer im März. Sein Begräbnis wurde zu einem Treffen von zahlreiche britischen Prominenten - und dem Who is who der Londoner Unterwelt.