Ein legendärer „Heimatfilm“ in Serie
Mit seinem Filmzyklus „Heimat“ von fast 52 Stunden Länge, „zerstückelt“ im TV als Serie ausgestrahlt, hat Edgar Reitz ein knappes Jahrhundert deutsche Geschichte aufgearbeitet: „Heimat“ beginnt nach Ende des Ersten Weltkriegs im fiktiven Dorf Schabbach in der pfälzischen Region Hunsrück und endet nach der deutschen Wiedervereinigung ebendort.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Mit seinem Lebenswerk hat Reitz, mittlerweile 81 Jahre alt, ein ausuferndes Epos mit einer Vielzahl unvergesslicher Figuren geschaffen. Der Zyklus ist ein Meilenstein der Filmgeschichte und wirft dabei einen unverkrampften Blick auf einen immer wieder missbrauchten Begriff: Heimat. Reitz will Geschichte vermitteln, so, wie die kleinen Leute sie erleben, wie er sagt. Und er will seiner Heimat - dem Hunsrück - ein Denkmal setzen.
Ort des Geschehens: Schabbach 1919. Der Soldat Paul Simon kehrt aus französischer Kriegsgefangenschaft nach Hause, in den Schoß seiner großen Familie. Paul setzt sich an den Tisch, er schweigt, die Küche füllt sich mit der Familie, bald ist das halbe Dorf um den Tisch vereint. Man bestaunt den Heimkehrer, aber das Leben geht weiter. Paul heiratet, gründet eine Familie, doch so unvermittelt, wie er eines Tages auftaucht, so plötzlich ist er wieder weg. Um in Amerika sein Glück zu suchen und eine Firma zu gründen, wie seine Frau Maria erst Jahre später erfahren wird.
So beginnt die erste Episode von „Heimat 1“. Zehn Millionen Menschen schauten 1984 durchschnittlich zu. Bei der Erstausstrahlung in der ARD war „Heimat - Eine deutsche Chronik“ seinerzeit ein TV-Ereignis - und keines, das mit pompöser PR-Begleitung erst herbeigeschrieben werden musste. Wunderbarerweise machte „Heimat 1“ Quote und begeisterte die Kritik. Die ersten elf Folgen, die Reitz wie alle seine Filme selbst produziert hat, liefen zur besten Sendezeit.
Schwarze GIs im tiefsten Hunsrück
282 Drehtage, 28 Hauptdarstellerinnen und -darsteller, 140 Sprechrollen, 5.000 Laiendarstellerinnen und -darsteller, 320.000 belichtete Filmmeter, wovon 28.000 schließlich verwendet wurden – ein paar dürre Zahlen zur Dimension von „Heimat 1“. Dahinter steht die Aufgabe, deutsche Geschichte darzustellen, dramaturgisch am Schicksal einer weit verästelten Familie entlangerzählt und – gemäß der Formel des Naturalisten Emile Zola - durch das Temperament des Künstlers gesehen. Und Reitz’ Temperament ist gekennzeichnet durch Empathie für alle seine Figuren.
Er setzt Akzente: Schabbach in den 1920er Jahren, der erstarkende Nationalsozialismus, die Machtergreifung Hitlers, der Krieg, wie ihn die Simons in Schabbach mitbekommen, die Befreiung durch die Amerikaner, die da plötzlich – schwarze GIs im tiefsten Hunsrück – im Dorf stehen. Hermann Simon, der Held der zweiten Staffel, Sohn von Maria und ihrem zweiten Mann, der beim Entschärfen einer Bombe ums Leben kommt, ist mittlerweile schon ein junger Mann. Er will Künstler werden, und weil die eigene Familie seine - um Jahre ältere - Geliebte vergrault hat, verlässt er das Dorf und geht nach München.
Spontisprüche und „Muff aus 1.000 Jahren“
Damals, sagt Reitz rückblickend, habe es noch keine DVD gegeben, kein Medium, das geeignet war, das Gesamtwerk „Heimat“ zu zeigen: Im Kino würde die schiere Filmlänge den Saal tagelang blockieren, außerdem müsste das Publikum verpflegt werden, und das Fernsehen schiele immer mehr auf die Quote. In der Tat, die ARD tat sich immer schwerer damit, Reitz weiterhin finanziell zu unterstützen, auch wenn „Heimat“ international ein großer Erfolg war.
Schließlich stand die Finanzierung. „Heimat 2“ setzte 1960 ein: „Unter den Talaren Muff aus 1.000 Jahren“, verkrustete Strukturen, Spontisprüche, das Leben an der Musikhochschule, Hermann Simons Aufgehen in der Neuen Musik, der Aufbruch der 68er, der einige mitreißt, andere kalt lässt. Und immer wieder Clarissa (Salome Kammer), sie studiert Cello und ist Hermanns (Henry Arnold) große Liebe, ersehnt und unerreichbar. Im richtigen Leben ist die Schauspielerin und Sängerin Reitz’ Ehefrau.
Abdriften in Terrorismus und Alkoholismus
Wie erzählt man diese Zeit, die auch schon ein halbes Jahrhundert zurückliegt? Die historischen Fakten müssen stimmen, die Kostüme, die Bauten, doch neben der Chronistenpflicht zählt die Geschichte des Einzelnen, die Geschichten, so wie sie den Figuren geschehen: Hermann Hochzeit und Bürgerlichkeit, Clarissa die internationale Konzertkarriere.
Andere driften in den Terrorismus ab, in den Alkoholismus. Der illustre Freundeskreis rund um Hermann und Clarissa schwillt immer mehr an in der Schwabinger Villa mit ihrer kunstaffinen Gönnerin, wo man sich zum Leben und Lieben trifft, dann löst er sich wieder auf.
„Wenn die Welt grenzenlos und die Orte beliebig werden, ist Heimat kein Ortsbegriff mehr, sondern ein Zeitbegriff“, so der Regisseur. „Das Wort Heimat an sich ist unschuldig. Dass reaktionäre Volkstümler oder die Nazis dieses Wort benutzt haben, darf uns nicht abschrecken. Im Gegenteil: Warum soll man es ihnen überlassen?“
Der Reiz des Hunsrücker Platt
Der „Heimat“-Zyklus ist nicht zuletzt deshalb so einzigartig, weil Reitz und sein Kameramann Gernot Roll eine kongeniale Bildsprache gefunden haben, um die Gemengelage von „deutscher Chronik“ (so der Untertitel) und subjektiven Empfindungen der Figuren zu beschreiben. Immer wieder wechseln Farb- und Schwarz-Weiß-Sequenzen einander ab, mitunter sind nur einzelne Bildelemente eingefärbt – so entstehen, ganz unaufdringlich, Momente großer Poesie und Dichte. Hinzu kommt der Reiz des Dialektes, den der Regisseur – für die 1980er Jahre in Deutschland vollkommen ungewohnt – einsetzt.
Das Hunsrücker Platt, das „Heimat 1“ durchzieht, schafft Gemeinschaft und Authentizität und einen filmischen Kontrast für den zweiten Teil des Zyklus, als Hermann Simon ausreißt, um in der Großstadt München Musik zu studieren. Da sind dann die Bayern, die Hochsprache, die Freunde mit ihren Dialekten aus anderen Regionen Deutschlands.
Talentsuche bei Laienensembles
Hinzu kommt, dass in „Heimat“ Laien mit Profidarstellern spielen, Reitz verlässt sich dabei auf sein Bauchgefühl, Probeaufnahmen werden nicht gemacht. Zur jahrelangen Vorbereitung vor dem Drehstart gehören auch Fahrten über Land, Talentsuche bei Laientheatergruppen und Volkshochschulensembles.
Reitz hängt an seinen Figuren, an seinen Schauspielern aus „Heimat 2“. So sehr, dass er sie auch später in „Heimat 3“ wieder einsetzt, mit viel Einsatz durch die Maskenbildner künstlich gealtert, was ihnen manchmal allzu sehr anzusehen ist. Er hängt an einer Art von Filmemachen, die ihm die nötige künstlerische Freiheit lässt. Mit Sturheit, Durchhaltevermögen und Hypotheken aufs eigene Haus bringt er – fünf Jahre später - auch die Finanzierung von „Heimat 3“ auf die Beine.
Im Freudentaumel der Wiedervereinigung
Der Heimatbegriff ist inzwischen ein anderer geworden, die deutsche Wiedervereinigung Wirklichkeit. Wie lässt sich eine Hunsrück-Geschichte erzählen, die auch den untergegangenen zweiten deutschen Staat mit einbezieht? Reitz hat die Antwort in einem Haus hoch über dem Rhein gefunden. Es ist das sogenannte Günderode-Haus, das im Örtchen Oberwesel, am anderen Ufer der Loreley, stand.
Dass die Dichterin Caroline von Günderode hier einst gewohnt haben soll, ist eine romantische Legende, doch sie war nützlich für den Film. Hermann und Clarissa haben sich im Freudentaumel der Wiedervereinigung in Berlin wiedergefunden. Sie wollen ihr gehetztes Musikerdasein aufgeben und eine neue Heimat begründen, indem sie eine Hausruine kaufen, die für den Film – und im Film – zu einem schmucken Fachwerkhaus mit Rheinblick aufgebaut wird. Die spezialisierten Handwerker dazu kommen aus Sachsen.
DVD-Hinweis
Die Heimat Trilogie - Gesamtedition, 18 DVDs, 99,99 Euro.
Rätselhafter Sog
Noch einmal spannt Reitz über diesen neuen Zufluchtsort, Schabbach ist gar nicht weit - sein Netz aus Figuren, Geschichten und Beziehungen zwischen Ost und West. Noch einmal spielt die Musik und ihre authentische Darbietung im Film eine entscheidende Rolle. Bilder, Worte und Musik üben auch in der dritten Staffel einen unnachahmlichen und rätselhaften Sog aus, das Produkt aus Reitz’ sorgfältigem und liebevollen Umgang mit jedem Detail seiner Geschichte.
In der Filmbranche, wo so viel Schaumschlägerei betrieben wird, so Reitz, sind dem Regisseur die Geduld und Gelassenheit gar nicht hoch genug anzurechnen, mit der er allen Widrigkeiten zum Trotz seine „Heimat“-Trilogie zu Ende, zur Gegenwart hin, erzählt hat.
Alexander Musik, ORF.at
Links: