Die Schule als Lebensraum
Viel wird dieser Tage über das System Schule diskutiert: aus der Sicht der Wirtschaft, die möglichst gut ausgebildete Arbeitskräfte braucht, und aus der Sicht der Lehrer, die gegen die geplante Reform des Lehrerdienstrechts kämpfen. Eine weitere Sichtweise wäre die der Kinder.
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Sarah ist 16 Jahre alt. Sie wird immer ruhiger in der Klasse, fehlt immer öfter im Unterricht. Ihre Noten werden schlechter. Sonderlich beliebt war sie ohnehin nie. Sarah wird im Klassenverband kaum wahrgenommen und wenn, dann als merkwürdig empfunden. Auf Unterstützung kann sie deshalb kaum hoffen. Eine Lehrerin wird auf Sarahs Problemlage aufmerksam. Es ist das diffuse Gefühl: Da stimmt etwas nicht.
Aber was macht man als Lehrerin mit diesem Gefühl? Der Lehrplan will eingehalten werden. Im Alltag muss man die Schüler bändigen, wenn schon nicht begeistern. Dann noch den Seelsorger spielen? Riskieren, dass das Kind weiter zumacht und beleidigt ist? Mit den Eltern reden - und Sarah vielleicht zusätzlich Stress bereiten, falls genau die Eltern das Problem sind? Zum Jugendamt gehen, obwohl vielleicht alles in Ordnung ist - und damit die Eltern unnötig in die Bredouille bringen?

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Was Schüler bewegt: Miley Cyrus und Fast Food - aber längst nicht nur
Gerne kommen, wenn man Hilfe braucht
Eine relativ einfache Antwort auf diese Fragen gibt es in Österreich an vier Prozent der Schulen: Der Lehrer spricht mit dem Schulsozialarbeiter, der Schulsozialarbeiterin. Im Fall von Sarah ist das Sandra Strohmaier, 29 Jahre alt, an einer Fachhochschule ausgebildet, mit bereits sechs Jahren Berufserfahrung. Strohmaier erarbeitete sich Vertrauen an der Schule, wirkt kompetent und patent, steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Zu ihr kommt man gerne, wenn man etwas braucht.
Strohmaier ist in Niederösterreich Sozialarbeiterin und bei X-Point beschäftigt, einer Einrichtung des Trägervereins Young, der wiederum der Jugendwohlfahrt zugeordnet ist. Niederösterreich ist Vorreiter in Sachen Schulsozialarbeit. Die Abdeckung hier ist höher als anderswo in Österreich, im Lauf von 15 Jahren wurde ein tragfähiges Modell etabliert. In anderen Bundesländern steht die Entwicklung noch ganz am Anfang, etwa im Burgenland.

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Michaela Marterer, bundesweite Koordinatorin von Schulsozialarbeit
Einmal mehr: Vorbild Skandinavien
Michaela Marterer, eine der beiden Geschäftsführer der Steirischen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, ist für ein österreichweites Koordinationsprojekt zuständig, das vom Bildungsministerium in Auftrag gegeben wurde und seit 2012 läuft. In einem ersten Schritt wurde festgehalten, welche verschiedenen Modelle der Organisation und Finanzierung von Schulsozialarbeit es in den neun Bundesländern gibt.
Das Thema ist klare Länderkompetenz, eine Vereinheitlichung kann man von oben nicht dekretieren. Also wird geschaut, was wo wie gut funktioniert. Das Ziel wäre eine Verwirklichung von gemeinsamen Qualitätsstandards und insgesamt eine Erhöhung der Quote. Im europäischen Vergleich sind die vier Prozent nicht viel, zumal dabei ein Sozialarbeiter für mehrere Schulen zuständig ist. In skandinavischen Ländern gibt es eine Gesamtabdeckung: Jede Schule hat ihren eigenen Sozialarbeiter. Im OECD-Vergleich zeigt sich ein regelrecht peinliches Verhältnis Lehrer zu pädagogischen-unterstützenden Kräften.
Effizienz und Verwertbarkeit
Soziale Organisationen wie die Caritas fordern genauso wie Bildungsexperten seit Jahren einen Ausbau auch in Österreich. Peter Härtel, gemeinsam mit Marterer Geschäftsführer der Steirischen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, spricht von einem theoretischen Bedarf von 2.000 Vollzeitbeschäftigten - also in etwa dem Status, der in Schweden erreicht ist. In Österreich sind es momentan um die 150, viele von ihnen arbeiten Teilzeit.
Mit Furor schreibt Wolfgang Horvath, Lektor im Bereich Lehrerbildung an der Akademie der bildenden Künste und selbst Lehrer in Wien, im Sammelband „Blickpunkt: Schulsozialarbeit in Österreich“ über ein Bildungssystem, das rein auf Effizienz und Verwertbarkeit abzielt, aber nicht ganzheitlich das Wohl des Kindes im Blick hat. Auf der Reformdauerbaustelle zeichne sich da kein grundsätzlicher Sinneswandel ab. Ob in den Debatten über einen Umbau des Gesamtsystems Schule oder über das Lehrerdienstrecht, es wird auf die Frage vergessen: Wie geht es eigentlich den Kindern?

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Die Tür mit der „niederen Schwelle“ - jeder ist willkommen, mit jedem Problem
Mehr als ein Kämmerchen mit Öffnungszeiten
Karsten Speck, deutscher Soziologe von der Universität Oldenburg mit Schwerpunkt Pädagogik, schreibt in seinem Standardwerk über Schulsozialarbeit, diese solle „mittels präventiver und intervenierender Angebote die gelingende Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen, deren schulische und außerschulische Lebensbewältigung bei Entwicklungsaufgaben und akuten Problemen und Konflikten sowie deren soziale Kompetenzen fördern“.
In der Praxis und etwas weniger kompliziert formuliert heißt das, sagt Sozialarbeiterin Strohmaier, es solle jemand „da sein“, anwesend sein, der sich Zeit nimmt für die Schüler. Eine ihrer Hauptaufgaben ist es, die Hemmschwelle zu verringern, dass Kinder und Jugendliche mit Problemen zu ihr kommen. Dazu braucht es mehr als nur ein Kämmerchen und einmal in der Woche fixe Öffnungszeiten. Dazu braucht es Beziehungsarbeit. „Niederschwelligkeit“ ist das Stichwort.
Keine Zwangsbeglückung
Strohmaier stellt sich in neuen Klassen vor, bei Gesprächen in Kleingruppen. Später gibt es Workshops. Man sieht sich und plaudert in der Kantine oder auf dem Gang - natürlich nur, wenn es sich ergibt, niemand soll zwangsbeglückt werden. Das wichtigste Prinzip ist die Freiwilligkeit. Die Kids sollen durch vertrauensbildende Maßnahmen im Hinterkopf haben, dass es da jemanden gibt, der für sie da ist - und dann von selbst kommen. Auch Lehrer können ihnen einen Besuch bei der Sozialarbeiterin nur vorschlagen, aber nicht anordnen.

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Sandra Strohmaier, Schulsozialarbeiterin in Niederösterreich
Das verlorene Turnsackerl
Ist das Vertrauen einmal da, kommen die Kinder mit den unterschiedlichsten Anliegen. Margot Müller, Geschäftsführerin von Young, die das niederösterreichische Modell vor 15 Jahren maßgeblich mitentwickelt hat, erzählt von einem Buben in einer zweiten Klasse Volksschule. Der habe sein Turnsackerl verloren und sei deshalb zur Sozialarbeiterin gekommen.
Eine nette Geschichte, sagt Müller, aber gleichzeitig biete sich in so einem Fall die Gelegenheit nachzufragen, ob und warum der Bub Angst hat, seinen Eltern davon zu erzählen. Armut in der Familie könnte dahinterstehen. Müller weiß nicht nur von Einzelfällen zu berichten. Sie, Sozialarbeiterin Strohmaier und die bundesweite Koordinatorin Marterer haben überregionale bzw. schulspezifische Statistiken bei der Hand, die zeigen, was die größten Probleme der Kinder und Jugendlichen sind, mit denen sie zum Sozialarbeiter kommen.
Die häufigsten Probleme
An erster Stelle stehen Probleme in der Klassengemeinschaft, hier ist die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen, am geringsten; dann mangelnde Leistung und Motivation. Mobbing wird häufig genannt; ab und zu Probleme mit Lehrern. Gefühle wie Trauer und Angst kommen immer wieder vor. Psychische Probleme sind regelmäßig Thema - Depressionen etwa oder Schüler, die sich „ritzen“, also selbst ihre Haut verletzen. Familiäre Probleme sind ein weiterer Punkt.
Buchhinweise:
Karsten Speck: Schulsozialarbeit. UTB, 187 Seiten, 18,50 Euro.
Josef Bakic, Johanna Coulin-Kuglitsch (Herausgeber): Blickpunkt: Schulsozialarbeit in Österreich. Löcker, 188 Seiten, 24,80 Euro.
Familiäre Probleme - das ist ein weites Feld. Schlimme Fälle wie Missbrauch und körperliche Gewalt kämen zwar regelmäßig vor, stünden aber nicht an der Tagesordnung. Die Gefährdung des Kindeswohles zu vermeiden ist der Auftrag der Jugendwohlfahrt, der die Schulsozialarbeitsträger zugeordnet sind. Der Großteil anderer Fälle muss nicht „gemeldet“ werden. Die Scheidung der Eltern etwa sei für Kinder oft sehr belastend, heißt es.
Versteckt hinter der PlayStation
Meistens aber, erzählt Sozialarbeiterin Strohmaier aus der Praxis, ist der Leidensdruck auch ohne spektakuläre Gründe groß - einfach nur, weil man sich in der Familie gegenseitig nicht mehr wahrnehme. Die Kids verschwänden hinter der PlayStation und entzögen sich dem Zugriff der Eltern, von denen sie sich überhaupt nicht verstanden fühlten. Eltern sollten sich dann nicht in Opposition einfach selbst zurückziehen und die PlayStation verteufeln - sondern versuchen, sich in die Lebenswelt der Kinder einzufühlen und zu zeigen, dass sie als Ansprechpartner jederzeit zur Verfügung stehen.
Bei vielen Problemen spiele mangelndes Selbstvertrauen eine Rolle, sagt Strohmaier. Ihr gehe es darum, den Kindern zu vermitteln: In irgendeiner Hinsicht fällt jeder von uns aus der Norm. Aber manche machen sich darüber eben mehr Sorgen als andere, zumal während der Pubertät. Der eine finde sich zu dünn, die andere zu dick, der eine fürchte, als Streber wahrgenommen zu werden, die nächste halte sich für zu ruhig.

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Margot Müller, Geschäftsführerin von Young
Dranbleiben als Devise
In Müllers Büro bei Young hängt neben Kinderzeichnungen auch eine launige Karikatur. Darauf sieht man eine Frau, die etwas zerfleddert aussieht, dazu der Spruch: „We are Social Workers, not Miracle Workers.“ Nicht jedes Problem kann von Sozialarbeitern selbst gelöst werden. Ist einmal die Vertrauensbasis da, werden die Kids begleitet, so sie das wollen, zu diversen Beratungsstellen oder man vermittelt sie an Schulpsychologen weiter.
Wichtig dabei sei es, sagt Strohmaier, dass ihre Klienten nicht das Gefühl bekämen, man schicke sie einfach mit einem Folder wieder fort. Strohmaier spricht mit Eltern, begleitet die Kinder und Jugendlichen zu Terminen und fragt zum Beispiel immer wieder einmal nach, ob jemand weiterhin zur Therapie oder Beratung geht, ob es deshalb finanzielle Schwierigkeiten gibt, ob es dem Betroffenen ganz einfach schon besser geht. Hier gilt: Dranbleiben ist die Devise.
Hilfe holen als Zeichen von Stärke
Strohmaier sieht sich auch als Aufklärerin. Einerseits vermittelt sie eine Abkehr von überkommenen Normvorstellungen - etwa dass es okay ist, schwul oder dick zu sein. Und, das ist ihr besonders wichtig: den jungen Menschen für das weitere Leben zu vermitteln, dass es nicht nur in Ordnung, sondern ein Zeichen von Stärke ist, sich Hilfe zu holen, wenn man sie braucht, dass es wichtig ist, die bestehenden Unterstützungssysteme wirklich zu nützen.
„Pro Schule einen Sozialarbeiter“
Schulsozialarbeitspionierin Müller ist eine glühende Verteidigerin dieses niederschwelligen, niederösterreichischen Modells in seiner jetzigen Form, aber selbst sie sagt: „Es ist kein Geheimnis, dass wir uns pro Schule einen Sozialarbeiter wünschen würden.“ An manchen Schulen können zusätzlich zur Finanzierung durch Land Niederösterreich und Schulgemeinde noch Gelder von Bund und EU im Rahmen eines Projekts zur Drop-out-Prävention verwendet werden.
Das heißt: Dort sind Sozialarbeiter schon jetzt nicht nur ein paar Stunden am Schulstandort, sondern können darüber hinaus regelmäßig Freizeitaktivitäten organisieren, um die Kids etwas mehr an die Schule zu binden. So gibt es etwa Theatergruppen. Müller erzählt mit leuchtenden Augen von einem Theaterabend an einer Schule mit hohem Migrantenanteil, samt multikulturellem Buffet. Wenn man als Sozialarbeiter so ein Projekt erarbeitet und bis zum Ende dranbleibt, dann wird viel Vertrauen geschaffen - bei Schülern, Eltern und Lehrern.

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Die Lebenswelt der Jugendlichen: Verständnis erwünscht
Nicht nur Krisenfeuerwehr
Schulsozialarbeiter sind zwar einerseits Krisenfeuerwehr, wenn etwas ganz schief läuft, wenn es ans Eingemachte geht. Aber mindestens genauso wichtig sind sie in Sachen Prävention: Gespräche führen und vermitteln, bevor es zu spät ist, bevor eine Situation eskaliert; Freizeitaktivitäten und Räumlichkeiten organisieren als Alternative zum einsamen Versauern vor dem Computer; bei der Strukturierung des Alltags helfen - X-Point bietet etwa als Planungstool eigens gestaltete Hefte an. Insgesamt ist das Ziel - gemeinsam mit einem Team aus Vertrauenslehrern, Schulpsychologen und Schulärzten -, dafür zu sorgen, dass die Schulzeit eine Lebensphase ist, aus der Kinder und Jugendliche gestärkt hervorgehen statt geschwächt und gedemütigt.
Diese Aufgabe ist nur interdisziplinär zu lösen, darin ist man sich einig. Umso wünschenswerter wäre es, meint die bundesweite Koordinatorin von Schulsozialarbeit, Michaela Marterer, wenn neben den Ländern auch der Bund quer durch die Ressorts (Bildung, Soziales, Gesundheit, dazu Wirtschaft, Familie und Jugend) Geld beisteuern würde, um die bestehenden Modelle auszubauen und die Gesamtabdeckung von den momentan nur vier Prozent sukzessive anzuheben. Vielleicht kann man ja der neuen Regierung eine Wunschliste aufs Fensterbrett legen, wo dem Thema Priorität eingeräumt wird, noch vor dem Schacher ums Schulsystem und ums Lehrerdienstrecht.
Sarah geht es besser
Die eingangs erwähnte 16-jährige Sarah ist ein Beispiel dafür, wie jemandem geholfen werden kann, wenn alle zusammenhelfen. Eine ihrer Lehrerinnen meldete sich bei Sozialarbeiterin Strohmaier. In mehreren Gesprächen stellte sich heraus, dass die Eltern des Mädchens sich gerade trennen und sie sich entscheiden soll, bei wem sie bleiben will. Als ob das nicht schwierig genug wäre, muss sie sich oft um die jüngeren Geschwister kümmern.
Mit Hilfe der Sozialarbeiterin öffnete sich Sarah ausgewählten Mitschülern und schaffte sich so ein Unterstützungsnetz. Mit der Mutter wurde auch gesprochen - die hatte gar nicht mitbekommen, wie schlecht es ihrer Tochter ging, weil die im Familienverband für die jüngeren Geschwister immer die Starke gespielt hatte. Heute geht es Sarah viel besser, sie ist gestärkt aus ihrer Krise hervorgegangen - dank Schulsozialarbeit.
Simon Hadler, ORF.at
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