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Kidnapper zu Medienstars stilisiert

Das Geiseldrama im deutschen Gladbeck vor 25 Jahren ist als eines der aufsehenerregendsten Verbrechen in die deutsche Kriminalgeschichte eingegangen. 54 Stunden lang hielten vom 16. August 1988 an die beiden Geiselnehmer Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner die Nation mit ihrer Irrfahrt durch West- und Norddeutschland in Atem.

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Das Geiseldrama war von Polizeipannen und Journalisten, die auf der Jagd nach Neuigkeiten alle Grenzen überschritten, geprägt. Live gesendete Fernseh- und Radiointerviews mit den Kidnappern, an ihrer Seite Geiseln in Todesangst, ließen deutsche Fernsehzuschauer an dem Drama teilhaben. In bis dahin nicht gekannter Weise wurden die beiden Verbrecher dabei zu Medienstars stilisiert.

Der bewaffnete Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner gibt einem Journalisten mit Mikrofon in einem Auto ein Interview

picturedesk.com/dpa/Thomas Wattenberg

Hans-Jürgen Rösner gibt einem in sein Auto zugestiegenen Journalisten ein Interview

Denn zwei Verbrecher, die mit wechselnden Geiseln in mehreren Fluchtautos tagelang durchs Land rasen und dabei Interviews geben dürfen - das hatte es in Deutschland zuvor noch nicht gegeben. Die traurige Bilanz nach dem gewaltsamen Ende des Dramas: Zwei Geiseln starben, ein Polizist starb während des Einsatzes bei einem Verkehrsunfall.

Aus Banküberfall wurde Geiselnahme

Das spektakuläre Verbrechen begann am Morgen des 16. August 1988. Degowski, damals 32 Jahre alt, und der 31-jährige Rösner überfallen, mit Maschinengewehren bewaffnet, eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck (Nordrhein-Westfalen). Als sie draußen Polizisten entdecken, nehmen sie zwei Geiseln, fordern einen Fluchtwagen und 300.000 Mark Lösegeld. Einem Rundfunksender geben sie telefonisch das erste Interview. Nach der Geldübergabe fahren die beiden am Abend mit ihren Geiseln im Fluchtauto los. Noch in Gladbeck steigt Rösners Freundin Marion L. zu.

„Vor allem mein Kumpel ist brandgefährlich“

Über die Autobahn fahren sie vom nördlichen Rand des Ruhrgebiets nach Bremen. Am Abend des 17. August kapern sie dort einen Linienbus. Vor dem Bus stellt sich Rösner mit der Waffe vor die Kameras. Er und sein Komplize hätten mit dem Leben abgeschlossen, sagt er. „Vor allem mein Kumpel ist brandgefährlich.“

Mit 27 Geiseln an Bord fahren sie auf die Autobahn bis zur Raststätte Grundbergsee - erneut verfolgt von zahlreichen Presseautos. Dort lassen sie die zwei Bankangestellten frei. Als die Polizei Marion L. vorübergehend festhält, erschießt Degowski den 15-jährigen Italiener Emanuele de Georgi.

Berüchtigte „Pressekonferenz“ in Köln

Die Polizei lässt L. wieder frei, der Bus mit Tätern und Geiseln fährt weiter in die Niederlande. Dabei drängt sich ein Pulk von rund 20 Journalistenautos zwischen Geiselnehmer und Polizei. Wieder fallen Schüsse. Der Busfahrer und L. werden verletzt. In den Niederlanden steigen die Täter mit den Bremer Geiseln Ines Voitle und Silke Bischoff in eine von der Polizei bereitgestellte Limousine um. Die anderen Geiseln sind frei.

Sie kehren ins Rheinland zurück, wo sie in der Kölner Fußgängerzone erneut mit Journalisten sprechen. Umringt von Journalisten und Schaulustigen geben die Täter Interviews - Köln wird zum Schauplatz der wohl berüchtigtsten „Pressekonferenz“ der deutschen Kriminalgeschichte. Die Polizei kann das von Journalisten und Schaulustigen umlagerte Fluchtauto nicht stürmen.

Dieter Degowski bedroht die Geisel Silke Bischoff mit einem Revolver

AP/Margret Pfeil

Dieter Degowski hält seinem später getöteten Opfer Silke Bischoff vor laufenden Kameras die Waffe an den Hals

Journalist weist Weg aus der Stadt

Später steigt sogar ein Journalist vorübergehend in das Fluchtauto, um den Kidnappern den Weg aus der Stadt zu zeigen. Als die Limousine sich wieder in Bewegung setzt, drängen Presseautos die Polizei ab. Wenig später entschließt sich die Polizeiführung zum Zugriff. Er endet in einem Desaster: Bei der Festnahme der Geiselnehmer auf der Autobahn 3 nahe Bad Honnef kommt es zu einem unkontrollierten Schusswechsel. Die 18-jährige Bischoff wird von einer Kugel aus Rösners Waffe tödlich getroffen, ihre Freundin überlebt schwer verletzt.

Rösner und Degowski wurden im März 1991 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. L. erhielt eine neunjährige Freiheitsstrafe, die sie vollständig verbüßte.

Konsequenzen aus Gladbeck

Als Konsequenz aus dem pannenreichen Fall überarbeitete die Polizei ihre Einsatzpläne. Heute soll kein Streifenwagen mehr während eines Banküberfalls am Tatort auftauchen, damit man nicht - wie in Gladbeck - eine Geiselnahme provoziert. Außerdem würde man mit allen Mitteln versuchen zu verhindern, dass sich ein Geiselnehmer in Bewegung setzt, „die Lage mobil wird“, wie ein deutscher Polizeiexperte sagte. Und heute würde eine Einsatzleitung die Fäden in der Hand behalten, auch wenn die Verbrecher das Bundesland wechseln. Zu groß ist die Gefahr, dass beim Wechsel der Zuständigkeiten wichtige Informationen verlorengehen

Die Medien wurden wegen mangelnder Zurückhaltung kritisiert. Der Deutsche Presserat legte später fest, dass es Interviews mit Tätern während des Geschehens nicht geben dürfe.

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