Jonglieren mit Demonstrantenzahlen
Möglichst viele Menschen für ein gemeinsames Anliegen auf die Straße zu bringen und damit politischen Druck erzeugen - das ist das Ziel jeder Demonstration. Problematisch wird es allerdings, wenn danach die Schätzungen, wie viele Leute teilgenommen haben, weit auseinandergehen. Und das ist meistens der Fall: Ob durch Unter- oder Übertreibung auch noch verfälscht oder nicht, die Schätzung ist immer eine Herausforderung.
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Aktuell wird in der Ukraine mit Demonstrantenzahlen jongliert. Zehntausende protestierten, Hunderttausende protestierten, das alles war zu lesen. Die Opposition selbst wollte ja bis zu eine Million Demonstranten versammelt wissen. Doch wie viele Menschen tatsächlich auf und rund um den Unabhängigkeitsplatz in Kiew gegen die Regierung protestierten, konnte niemand genau sagen.

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Menschenmeer in Kiew
Unrealistische Angaben
Ähnliches spielte sich vor ein paar Monaten in Ägypten ab. Von 30, ja sogar 33 Millionen war da die Rede, die gegen den mittlerweile abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi demonstriert haben sollen. Allerdings wären das über 40 Prozent aller 80 Millionen Ägypter. Und Experten sind sich einig, dass auf den Tahrir-Platz in Kairo etwa 400.000 Menschen passen, zählt man die Straßen rund um den Platz hinzu, kann man vielleicht auf eine Million kommen.

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Viele Menschen auf dem Tahrir-Platz - aber wie viele?
Methode bei Berkeley-Protesten entwickelt
Auf 400.000 kommt man mit der klassischen Methode, Massen einzuschätzen. Die Größe des Ortes, wo die Kundgebung stattfindet, kann eruiert werden. Dann wird geschätzt, wie dicht die Menschen nebeneinanderstehen. Multipliziert man die Fläche mit der vermuteten Zahl an Demonstranten pro Quadratmeter hat man die Schätzung.
Als Begründer der Methode gilt Herbert Jacobs, Journalismusprofessor an der Universität Berkeley in Kalifornien: Bei den Studentenprotesten in den 60er Jahren, die auch als Startschuss für die europäische 68er Bewegung gelten, wollte er die Zahl der Teilnehmer feststellen. Bei seinen Berechnungen ging er aber davon aus, dass die Menschen nicht überall gleich eng aneinander stehen.
Unterschiedliche „Dichte“
Von einem Ort, an dem er die Proteste überblicken konnte, legte er über das Gelände einen virtuellen Raster. Mit dessen Hilfe verfeinerte er die Schätzung durch unterschiedliche „Dichte“ in der Kundgebung. In lockeren Zonen wird pro Quadratmeter ein Mensch angenommen, in dichteren sind es zwei und im Gedränge vier. Die durch den Raster entstandenen Felder werden jeweils einer der drei Kategorien zugeordnet.
Nur: Laut Mathematikern ist hier mit einem Standardfehler von rund 25 Prozent zu rechnen - und damit ist die Bandbreite der Schätzung enorm hoch. Ein Beispiel: Werden 10.000 Leute errechnet, dann könnten es auch 12.500 sein - oder nur 7.500 . Der US-Soziologe Clark McPhail meint, dass in den meisten Fällen die Schätzungen zu hoch ausfallen. So würden in den vorderen Reihen die Menschen viel dichter stehen, und gerade diese würden für die Hochrechnung häufig herangezogen. Auch Hindernisse im Gelände würden häufig nicht berücksichtigt.

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Million Man March sorgte für Kontroversen
Auch Fotoauswertung nicht eindeutig
Mittlerweile werden Satellitenbilder für die Zählung herangezogen - freilich mit dem Nachteil, dass die Auswertung recht lange dauert und nicht sofort für Medien verfügbar ist. Die Mathematiker Ray Watson, Professor in Melbourne, und Paul Yip, Professor in Hongkong, sehen den relativen Standardfehler hier immer noch bei zehn Prozent. Real liegen die Abweichungen aber manchmal noch viel höher: Beim ersten Amtseid von US-Präsident Barack Obama lagen die Schätzungen - von denselben Fotos als Quellen - weit auseinander: 1,2 bis zu 1,8 Millionen Menschen wurden geschätzt.
Politwirbel rund um Teilnehmerzahlen
Und nicht erst einmal haben unterschiedliche Schätzungen zu riesigen Kontroversen geführt. 1995 sorgte der Million Man March in Washington für eine solche Kontroverse. Zu dem Protestmarsch von afroamerikanischen Männern kamen laut dem Organisator, dem Bürgerrechtler Louis Farrakhan, 1,5 Millionen Teilnehmer. Die Behörden sprachen allerdings von nur 400.000. Der darauffolgende Streit hatte zur Folge, dass der National Park Service als zuständige Stelle einige Jahre gar keine Zahlen mehr herausgab.
2009 sorgte ein Aufmarsch der erzkonservativen „Tea-Party“-Bewegung für viel Wirbel: 60.000 bis 70.000 Menschen seien es gewesen, meinten Medien. Die Veranstalter sprachen aber von mindestens 250.000, die „linken“ Medien würden lügen, meinten sie. Einzelne Stimmen aus der „Tea-Party“, wie Oberscharfmacher Glenn Beck, sprachen sogar von ein bis zwei Millionen Teilnehmern.

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Die „Tea-Party“ fühlte sich durch Schätzungen marginalisiert
Andere Methoden bei Protestmärschen
Freilich sind Schätzungen auf Basis von Beobachtungen und Fotos nur Momentaufnahmen, manche Teilnehmer haben die Kundgebung vielleicht schon verlassen, manche sind noch nicht erschienen. Noch viel mehr ins Gewicht fällt diese Fehlerquelle bei sich bewegenden Protestzügen. Hier wird zumeist an einem Beobachtungspunkt gezählt, wie viele Menschen vorbeiziehen. Bei großen Veranstaltungen wird auch hier hochgerechnet.
So wird gezählt, wie viele Demonstranten zum Beispiel in einer Minute vorbeimarschieren und das auf die gesamte Durchzugszeit kalkuliert. Mehrere Firmen haben mittlerweile auch Methoden entwickelt, bei denen Kameras zur Zählung eingesetzt werden. Gerade in Ländern, in denen die Wahrung der Grundrechte nicht immer gewährleistet ist, ist ein solches Vorgehen aber freilich heikel. Demonstrationsteilnehmer befürchten zu Recht, per Kamera identifiziert werden zu können.
Zwei Beobachtungspunkte, genauere Einschätzung
Der Mathematiker Yip hat die Methode wiederum bei den jährlichen Demonstrationen in Hongkong am 1. Juli - 1997 fiel da die ehemalige britische Kronkolonie an China - verfeinert. Neben einem Zählpunkt zu Beginn der Demonstration führte er einen zweiten gegen Ende der Route ein. Abgesehen davon, zwei unabhängige Ergebnisse zu haben, wird auch versucht zu eruieren, wie viele Menschen den Zug bereits verlassen haben oder später dazugekommen sind. Dazu wird beim zweiten Beobachtungspunkt eine Stichprobe an Demonstranten befragt, ob sie auch den ersten passiert haben. Mit dieser Methode will Yip den Standardfehler auf zwei Prozent reduziert haben.
Wiener Polizei zählt - und setzt auf Erfahrung
Auf eine Mischung aus tatsächlicher Zählung und Erfahrung verlässt sich die Wiener Polizei bei ihren Einschätzungen von Demonstrationsteilnehmern: Bei Protestzügen und auch bei kleineren Standkundgebungen werden die Teilnehmer tatsächlich gezählt, so Polizeisprecher Thomas Keiblinger gegenüber ORF.at.
Bei großen Standkundgebungen habe man über Jahre genaue Erfahrungen, wie viele Menschen auf die markanten Plätze wie Ballhausplatz oder Heldenplatz, wo immer wieder Demonstrationen stattfinden, passen. Die Angaben der Polizei seien „sehr genau“, so Keiblinger. Die Angaben der Veranstalter würden hingegen natürlich auch von deren eigenen Interessen geleitet.
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