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Mursi will friedlichen Widerstand

Die ägyptische Armee hat Staatschef Mohammed Mursi am Mittwochabend abgesetzt und eine vorgezogene Präsidentschaftswahl angekündigt. Mursi werde durch den derzeitigen Präsidenten des Verfassungsgerichts abgelöst, teilte die Armee in Kairo mit.

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Adli Mansur solle vorläufig die Geschicke des Landes lenken, sagte Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi am Mittwoch in einer Fernsehansprache. Er kündigte zudem eine neue Präsidentschaftswahl und die Aufhebung der im Vorjahr beschlossenen, von den Islamisten ausgearbeiteten Verfassung an. „Die Armee will nicht an der Macht bleiben“, versicherte Sisi, der auch Armeechef ist. Das Land solle nun eine Regierung aus Technokraten bekommen. Der politische Fahrplan sei mit Politikern und anderen öffentlichen Personen beschlossen worden.

Ägyptischer Militärchef

AP/Ägyptisches Staatsfernsehen

Armeechef und Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi bei der TV-Ansprache

Krisentreffen mit Opposition

Der Ankündigung des Armeechefs war ein Krisentreffen der Militärführung mit den Spitzen der Opposition und hohen geistlichen Würdenträgern vorausgegangen. Unter ihnen waren der Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei, Vertreter der Protestbewegung Tamarud, der Großscheich der Al-Ashar-Universität, Ahmed al-Tajjib, und der koptisch-orthodoxe Papst Tawadros II. Sie waren mit im Bild zu sehen, als Sisi die Erklärung verlas, die bei dem Treffen vereinbart wurde.

Freudenkundgebungen auf Tahrir-Platz

In Kairo wurde die Ankündigung mit Freudenkundgebungen begrüßt. Feuerwerksraketen stiegen in den Himmel, hupende Autokorsos zogen durch die Stadt. Auf dem Tahrir-Platz, wo sich Zehntausende Mursi-Gegner versammelt hatte, feierten die Menschen schon in den frühen Abendstunden den Abgang des Präsidenten.

Feuerwerk über Tahrir-Platz

Reuters/Steve Crisp

Feuerwerk auf dem Tahrir-Platz

Die Islamisten hingegen wollen Mursis Entmachtung nicht hinnehmen. Mursi selbst rufe zu einem friedlichen Widerstand auf, sagte ein enger Vertrauter Mursis am Mittwochabend der Nachrichtenagentur AFP. Auf einer der offiziellen Twitterseiten Mursis hieß es am Mittwochabend, es handele sich um einen „Putsch“. Dieses Vorgehen werde von allen freien Menschen, die für ein ziviles, demokratisches Ägypten gekämpft hätten, abgelehnt. Das Militär hatte Mursi bis Mittwochnachmittag Zeit gegeben, einen Ausweg aus der Krise zu finden. Millionen Menschen hatten bei Kundgebungen in den vergangenen Tagen den Rücktritt Mursis gefordert.

Mursi wird in Kaserne bewacht

Laut seinem Sicherheitsberater Essam al-Haddad ist der Militärputsch gegen Mursi kurz nach Ende des Ultimatums am frühen Mittwochabend angelaufen. Nach Angaben eines weiteren seiner Beraters hält sich Mursi in einer Kaserne der Republikanischen Garden in einem Vorort von Kairo auf. Vor der Kaserne und dem Präsidentenpalast marschierten Soldaten auf und errichteten Sperren.

Militär in Kairo

AP/Manu Brabo

Militär bei den Demonstrationen nahe der Universität in Kairo

Auch in anderen Stadtteilen Kairos verstärkte das Militär seine Präsenz. In der Nähe von Demonstrationen von Mursis Anhängern in Kairo fuhren Dutzende Panzer auf. Das berichteten Reporter der Nachrichtenagentur AFP. Aus Militärkreisen verlautete nach Angaben der ägyptischen Nachrichtenagentur MENA, es gebe ein massives Truppenaufgebot in den Vierteln Nasr-Stadt, Heliopolis und in der Nähe der Universität. Die staatliche Zeitung „al-Ahram“ berichtete, die Panzer seien aufgefahren, „um in den nächsten Stunden Gewaltakte zu verhindern, die die nationale Sicherheit bedrohen könnten“.

Gescheiterter Vermittlungsversuch

Die Armee unternahm noch vor Ablauf des Ultimatums an Gegner und Anhänger von Mursi einen letzten Versuch, die dramatische Lage zu entschärfen. Armeechef General Sisi lud die Konfliktparteien in Kairo zu einem Krisentreffen ein. Die Muslimbrüder lehnten die Einladung allerdings ab. Das Präsidialamt bekräftigte kurz vor Ablauf des Ultimatums allerdings die Bereitschaft, eine Koalitionsregierung zu bilden. Der Schritt solle dabei helfen, die Staatskrise zu überwinden.

Kurz nach Ablauf des Ultimatums der Armee lehnte Mursi erneut einen Rücktritt ab. Zugleich wiederholte er sein Angebot der Bildung einer umfassenden Koalitionsregierung. Diese solle alle politischen Kräfte und insbesondere die Jugendbewegung einschließen, hieß es in einer Erklärung, die auf der offiziellen Facebook-Seite Mursis gepostet wurde.

Mursi: Notfalls im Kampf sterben

Mursi, der seine religiösen und politischen Wurzeln in der Muslimbruderschaft hat, zeigte sich bei einer Ansprache in der Nacht nicht kompromissbereit. Er sei auf legitime Weise gewählt und werde sich dem Druck nicht beugen. Mursi ist nach den Worten seines Sprechers entschlossen, notfalls im Kampf für die Demokratie zu sterben. Er wolle nicht von der Geschichte verurteilt werden.

Der Sprecher der regierenden Muslimbruderschaft, Gehad al-Haddad, bekräftigte den Widerstand der Islamisten gegen eine Entmachtung Mursis. „Der einzige Plan, den die Menschen angesichts eines Putschversuchs haben, ist, sich vor die Panzer zu stellen“, teilte er am Mittwoch über den Kurznachrichtendienst Twitter mit.

Islamistensender abgeschaltet

Die Polizei nahm unterdessen Leibwächter des Vorsitzenden der Muslimbrüder, Mohammed Badia, fest. Vor dem Gebäude des ägyptischen Staatsfernsehens fuhren nach Angaben aus Sicherheitskreisen gepanzerte Fahrzeuge vor. Mitarbeiter, die nicht an der Produktion von Livesendungen beteiligt sind, verließen ihre Arbeitsplätze.

Jubelnde Demonstranten

APA/EPA/Amel Pain

Freudenkundgebungen in Kairo

Unmittelbar nach der Entmachtung Mursis wurden Fernsehsender der Islamisten abgeschaltet. Beim Sender Misr25 der Muslimbruderschaft wurde die Ausstrahlung schlagartig unterbrochen, berichteten Augenzeugen. Auch der Islamistensender al-Hafes und der Salafistensender al-Nas seien betroffen, berichtete „al-Ahram“ (Onlineausgabe).

Die ägyptische Zentralbank ordnete laut Staatsfernsehen die Schließung aller Geldinstitute im Land an. Am Donnerstag sollen sie aber mehrere Stunden wieder öffnen. Die Zeitung „al-Ahram“ berichtete, dass die Banken dann zwischen 8.30 Uhr und 13.00 Uhr geöffnet sein sollten. Demnach sollten auch Einschränkungen bei Geldtransfers ins Ausland aufrechterhalten bleiben, die seit dem „arabischen Frühling“ und dem Sturz von Langzeitpräsident Mubarak im Februar 2011 bestehen.

Massive Unzufriedenheit mit Wirtschaftslage

Seit mehreren Tagen erschütterten heftige Proteste für und gegen Mursi das Land. Bei Zusammenstößen zwischen Gegnern und Anhängern des Staatsoberhaupts starben Dutzende Menschen, allein in der Nacht zum Mittwoch gab es in Kairo mindestens 22 Tote. Die Armee kündigte über das Soziale Netzwerk Facebook an, sie kämpfe gegen die, die das Volk verängstigten. Sie werde Terroristen und Extremisten bekämpfen und ihr Blut für Ägypten opfern.

Die Protestbewegung kritisierte Mursi wegen seines autoritären Führungsstils, einer fortschreitenden Islamisierung im Land und auch wegen einer dramatisch verschlechterten Wirtschaftslage. Mursis Anhänger sehen die Krise als ideologischen Machtkampf - für oder gegen den Islam. Mursi war ein Jahr im Amt. Die Muslimbruderschaft war sowohl aus der Parlaments- als auch der Präsidentenwahl als stärkste Kraft hervorgegangen.

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