Verheerende Bilanz
Jubelstimmung in der Istanbuler Innenstadt nach dem Rückzug der Polizei vom Taksim-Platz: Mit Rufen wie „Regierung tritt zurück“ und „Wir sind hier, wo bist du?“ an Regierungschef Recep Tayyip Erdogan gerichtet bekräftigten die Menschen auf dem zentralen Platz zugleich ihren Unmut über die Regierung.
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Unter den Demonstranten waren auch zahlreiche Oppositionspolitiker und Künstler. Nach unbestätigten Meldungen ist es allerdings nach dem Rückzug der Polizei vom Taksim-Platz im Stadtteil Besiktas zu neuerlichen Zusammenstößen gekommen, wie Aktivisten am Samstag im Internet berichteten. Die Polizei habe Tränengasgranaten abgefeuert. Auch türkische Medien berichteten über den Polizeieinsatz. Demonstranten hätten einen Polizeiwagen angezündet.

AP
Auch in der Nacht auf Sonntag blieb die Lage angespannt
Generell erreichten die Auseinandersetzungen laut Medienberichten aber nicht die Intensität der vorangegangenen beiden Nächte. In Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter wurde für Sonntag erneut zu Demonstrationen aufgerufen, auch aufgrund des Regens war jedoch unklar, wie viele Personen sich daran beteiligen würden.
Erdogan räumte Fehler ein
Die Polizei hatte sich am Samstag nach mehrtägiger Konfrontation mit den Demonstranten vom Taksim-Platz zurückgezogen. Tausende Protestteilnehmer rückten daraufhin auf den Platz vor. Bei den Protesten wurden nach Angaben von Innenminister Muammer Güler insgesamt 79 Menschen verletzt, darunter 53 Zivilisten und 26 Polizisten. Bei Demonstrationen in 48 Städten wurden den Angaben zufolge zudem insgesamt 939 Menschen festgenommen. Die Ärztegewerkschaft sprach unterdessen von 414 Verletzten allein in Ankara, sechs davon hätten ein Schädelhirntrauma erlitten.
Erdogan räumte zuvor auch Fehler und unangemessene Härte bei dem Polizeieinsatz auf dem Taksim-Platz ein. „Der Einsatz von Pfefferspray durch die Sicherheitskräfte war ein Fehler. Nun gut. Ich habe das Innenministerium angeordnet, dies zu untersuchen“, sagte Erdogan. Die Demonstranten rief er dazu auf, die Proteste zu beenden. Die gewählte Regierung werde sich nicht einer Minderheit beugen.

AP
Bilder der Zerstörung auch in der Nacht auf Sonntag
Demonstration brutal niedergeschlagen
Schon am Freitag und in der Nacht auf Samstag setzte die Polizei Tränengas, Pfefferspray und Wasserwerfer gegen Teilnehmer des Protests ein. Bei den Straßenschlachten wurden laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) mehr als 100 Menschen verletzt. Nach offiziellen Angaben wurden zwölf Menschen im Krankenhaus behandelt, darunter eine Frau mit einem Schädelbruch.

Reuters/Osman Orsal
Die Polizei setzte Tränengas gegen die Demonstranten ein
Städtisches Parkprojekt als Auslöser
Auslöser der Proteste war ein Projekt zur Errichtung eines Einkaufszentrums im Gezi-Park neben dem Taksim-Platz. Für das Bauvorhaben sollen in der beliebten Parkanlage 600 Bäume entwurzelt werden. Mit dem Camp hatten die Demonstranten seit Anfang der Woche versucht zu verhindern, dass diese Grünflächen zerstört werden. Erdogan erklärte am Samstag, die Pläne für eine Umgestaltung des Parks ungeachtet der gewaltsamen Demonstrationen weiter verfolgen zu wollen. Der Protest gegen die Pläne sei lediglich ein Vorwand einiger Gruppen, um Spannungen zu schüren, so Erdogan.
„Tayyip, Rücktritt“
Der Unmut der Öffentlichkeit richtet sich auch gegen andere Großprojekte der Regierung, etwa die neue Brücke über den Bosporus und einen dritten internationalen Flughafen für Istanbul, aber auch grundsätzlich gegen eine als autoritär kritisierte Politik von Erdogans islamisch-konservativer Regierung, die zuletzt etwa für rigide Alkoholgesetze eintrat. Die Proteste in Istanbul gehören zu den stärksten seit dem ersten Amtsantritt Erdogans vor mehr als zehn Jahren. Demonstranten auf dem Taksim-Platz skandierten an die Adresse Erdogans auch „Tayyip, Rücktritt“ und „Tayyip, schau wie viele wir sind“.

Reuters/Murad Sezer
Gebäudefronten am und im Umkreis des Taksim-Platzes wurden zerstört
Viel Wut in Reihen der Opposition
In Oppositionskreisen hatte sich zuletzt viel Wut über die Politik der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP angestaut, die aus Sicht ihrer Gegner generell immer weniger Rücksicht auf die Interessen Andersdenkender, etwa Verfechter der strikten Trennung von Religion und Staat, nimmt. Die größte türkische Oppositionspartei hatte die Regierung zuvor zu Deeskalation aufgerufen. Die Polizei müsse vom Taksim-Platz abgezogen werden, zitierten türkische Medien am Samstag den Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu.
Zehntausende Menschen gingen auch in mehreren anderen türkischen Städten auf die Straßen. So setzte die Polizei auch in der Hauptstadt Ankara Tränengas ein, um Demonstranten vor der AKP-Zentrale zu vertreiben. Die aktuellen Proteste in Istanbul gehören zu den stärksten seit dem Amtsantritt von Erdogan vor mehr als zehn Jahren.
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