Themenüberblick

Die deutsche Oper und die Gretchenfrage

Er polarisiert wie eh und je: Richard Wagner wird auch 200 Jahre nach seiner Geburt am 22. Mai 1813 abgöttisch geliebt von den einen und abgrundtief verachtet von den anderen. Seine Musik sei wie „ein gewaltiger Rausch“ oder „ein alles mitreißender Strom“, schwärmen die Anhänger und feiern den deutschen Komponisten weltweit in 279 Produktionen in 124 Städten mit 988 Aufführungen.

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„Dies ist Demagogie, Blasphemie und Wahnwitz! Dies ist ein parfümierter Qualm, in dem es blitzt! Dies ist das Ende aller Moral in der Kunst“, hält etwa der Schriftsteller Thomas Mann den Wagnerianern entgegen. Ästhetik und Ethik stehen einander gegenüber: Sosehr Wagners Musik bewegen und überwältigen mag, ebenso sehr verstören und irritieren sein kunstreligiöser Ansatz und vor allem sein Antisemitismus - mehr dazu in science.ORF.at.

Wie viel Hitler steckt in Wagner?

In Israel ist Wagners Name besonders emotional aufgeladen: Dank seiner unverhohlen rassistischen Schrift „Das Judentum in der Musik“ und der braunen Einfärbung Bayreuths durch seine Nachkommen wird Wagner hier als geistiger Vordenker eines seiner größten Fans, Adolf Hitler, und als Wegbereiter von Auschwitz empfunden. Deshalb gibt es in Israel bis heute ein konsequentes Aufführungstabu.

Hitler in Bayreuth 1933

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Adolf Hitler 1933 in Bayreuth

Wagners Urenkelin Nike Wagner meint: „Ja, der Komponist des ‚Tristan‘ war Antisemit und hätte auch Paris gerne mal niedergebrannt. Wagner bleibt ein moralisches Problem. Dennoch: Niemand hört Wagner heute mehr ‚ideologisch‘. Deshalb muss es erlaubt sein, das Werk vom Charakter seines 200 Jahre alten Schöpfers zu trennen.“

Nike Wagner

AP/Eckehard Schulz

Urenkelin Nike Wagner

Nichts anderes wünscht sich endlich auch die große Schar der Wagner-Hörer im Jubiläumsjahr: Laut einer aktuellen Umfrage will eine breite Mehrheit nicht ewig mit der Gretchenfrage, wie viel Hitler in Wagner stecke, an diese Musik herantreten, sondern sich getrost ergreifen, überwältigen, berauschen lassen, frei nach den Worten des Philosophen Friedrich Nietzsche: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehn.“

Wagner-Mania in Österreich

Die Gelegenheiten, das Oeuvre Wagners wie auch immer zu „inhalieren“, sind heuer inflationär, das ganze Jahr steht im Zeichen des Komponisten der Hochromantik. Und Österreich ist mit dabei: Die Wiener Staatsoper inszenierte „Tristan und Isolde“ neu in der Regie von David McVicar mit Peter Seiffert und Nina Stemme in den Hauptpartien. Der Dramatiker Joshua Sobol und der Theatermacher Paulus Manker bringen ihr Simultantheater „Wagnerdämmerung“ im ehemaligen k. u. k. Post- und Telegraphenamt zur Aufführung. Im Jüdischen Museum Wien läuft ab 24. September die Ausstellung „Richard Wagner und das jüdische Wien“.

Bei den Salzburger Festspielen stehen heuer gleich zwei Wagner-Opern auf dem Programm. „Die Meistersinger von Nürnberg“ werden von den Wiener Philharmonikern unter Daniele Gatti in der Regie von Stefan Herheim am 2. August zur Premiere gebracht. Das Frühwerk „Rienzi“ steht am 11. August unter dem neuen Chef der Wiener Symphoniker, Philippe Jordan, mit dem Gustav Mahler Jugendorchester in einer konzertanten Version an.

Richard Wagner mit seinem Hund Pohl, 1865

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Richard Wagner mit seinem Hund Pohl 1865 in München

In Linz geht man ab 26. Oktober an das Großvorhaben, den kompletten „Ring“ szenisch ins Repertoire zu holen. Im Halbjahresrhythmus soll der „Ring“ bis 7. Februar 2015 geschmiedet sein. Für das Pult bzw. den Regiesessel wurden Dennis Russell Davies und Uwe Eric Laufenberg verpflichtet.

„Die Ekstase der Kommunikation“

ORF III zeigt bis Jahresende alle 13 Wagner-Opern. Dokumentationen, Porträts und Spielfilme ergänzen den Veranstaltungsreigen. Der Geburtsort Leipzig gönnt sich zum 200. Jubiläum ein neues Wagner-Denkmal. Zum Jubiläum kommen zudem neue CDs und Bücher in beinahe unüberschaubarer Anzahl heraus. Leben und Werk Wagners wurden unzählige Male beschrieben, Neues zu entdecken gibt es dabei freilich nicht mehr, nur noch neue Herangehensweisen.

Die Journalistin Kerstin Decker etwa betrachtet Wagner mit den Augen seiner Hunde und zeigt in ihrem jüngsten Buch einen Komponisten, der die Tiere mehr liebte als die Menschen. Ein anderer aktueller Ansatz checkt Wagners Oeuvre nicht länger auf Sein oder Schein, Wahrheit oder Ware, Moral oder Unmoral, sondern auf seine medialen Kompetenzen, wie Martin Geck in seiner Wagner-Biografie anführt.

Sendungshinweis

Richard-Wagner-Schwerpunkt in Ö1 - mehr dazu in oe1.ORF.at

„Wir erleben nicht mehr das Drama der Entfremdung, wir erleben die Ekstase der Kommunikation“, lautet die postmoderne Diagnose Jean Baudrillards, die der Wagner-Forscher Sven Friedrich unlängst in einem Beitrag zu „Wagners Medientechnologie“ mit der modischen Überschrift „tannhaeuser@venusberg.de“ übernahm.

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