„Architektur muss überraschen“
Der brasilianische Stararchitekt Oscar Niemeyer ist am Mittwoch im Alter von 104 Jahren gestorben. Das gab das Samaritano-Krankenhaus in seiner Geburtsstadt Rio de Janeiro bekannt. Niemeyer war dort seit mehreren Wochen behandelt worden, unter anderem wegen einer unzureichenden Nierenfunktion und zuletzt wegen Atemproblemen.
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Erst Ende Oktober war Niemeyer nach einer fast zweiwöchigen Behandlung wegen Dehydrierung aus demselben Krankenhaus entlassen worden. Vor vier Jahren hatte er sich das Becken gebrochen, seitdem bewegte er sich im Rollstuhl. In den vergangenen Jahren wurde er immer wieder stationär behandelt.
Weltkarriere trotz vieler Kritiker
Der „Herr der Kurven“, der die gerade Linie verabscheute und laut Le Corbusier „die Berge von Rio in den Augen hat“, gelangte schon vor vielen Jahrzehnten zu Weltruhm, wenn auch begleitet von manchen kritischen Tönen. Bereits 1947 war er am Entwurf des UNO-Gebäudes in New York beteiligt. Ende der 1950er Jahre kreierte er die Reißbretthauptstadt Brasilia.

Reuters/Eloy Alonso
Das Niemeyer Center im spanischen Aviles ist eines seiner letzten Bauwerke und wurde vergangenes Jahr fertiggestellt
Schüler seiner größten Vorbilder
Als eines von sechs Kindern eines deutschstämmigen Kaufmanns in Rio geboren, begann für Niemeyer bald nach dem Architekturstudium 1938 durch die Zusammenarbeit mit seinen „größten Vorbildern“, Lucio Costa und Le Corbusier, der rasante Aufstieg. Während der Militärdiktatur (1964 bis 1985) wurde der Marxist in Brasilien verfolgt und mit einem Arbeitsverbot belegt. Im Exil baute er aber eifrig weiter: In Israel und Algerien, in Frankreich und beim Wiederaufbau der vom Erdbeben (1972) und Bürgerkrieg zerstörten Hauptstadt Nicaraguas, Managua.
Zum „Architekturpapst“, wie er in Medienberichten immer wieder genannt wurde, wurde er aber mit Brasilia. Auf der Hochebene fern jeglicher Zivilisation entfaltete Niemeyer seine „tropische Fantasie“ (Gropius). „Die Architektur darf nicht nur funktionell oder von Dogmatik kastriert, sie muss auch schön, kreativ und fantasieanregend sein“, erklärte er einmal. „Architektur muss überraschen.“ Seine Kurven seien nicht mit dem Lineal gezogen, sondern „frei und sinnlich, wie die Kurven einer geliebten Frau“. Diese Haltung brachte ihm nicht nur Bewunderer ein.
„Der Kunde interessiert mich einen Dreck“
Kritiker bemängeln, dass Niemeyers Bauten den Bedürfnissen der Menschen nicht gerecht werden. In Brasilia, wo die Paläste in der Luft zu schweben scheinen, finden sie Argumente. Die „Stadt ohne Straßenecken“ hat kaum Flanierstellen. In der Präsidentenresidenz Alvorada hält es wegen schlechter Belüftung kaum ein Staatschef aus.

AP
„Ich habe zu wenig in meinem Leben gemacht. Das Leben ist zu kurz, nur ein Hauch.“
„Der Kunde interessiert mich einen Dreck“, rutschte es Niemeyer einmal vor vielen Jahren heraus. Dennoch hätte er seine Aufträge und Preise „nicht zählen“ können. Womit er sich überhaupt nicht abfinden konnte, ist die Zunahme des Elends. „Wenn die Verzweiflung das Herz der Armen erreicht, wird eine Weltrevolution unvermeidlich sein“, prophezeite er. Reichtum sei zum Teilen da. „Ich habe mehr als 600 Projekte in 20 Ländern realisiert, bin aber ärmer als in den 50er Jahren, weil ich es so will. Geld ist eine schmutzige Sache.“
Tägliche Büroarbeit bis ins hohe Alter
Stillstand kannte Niemeyer in keinerlei Hinsicht. Immer wieder kehrte er in den letzten Jahren nach Krankenhausaufenthalten und Operationen an den Zeichentisch zurück. Bis wenige Monate vor seinem Tod ging er täglich in sein Büro, um weiter an seinen Entwürfen zu arbeiten.
Über den Sinn des Lebens hatte er sich in diesem Jahr in einer französischen Zeitung geäußert: „Eine Frau an der Seite - den Rest wählt Gott aus!“ So verwundert es nicht, dass er, nachdem er nach 76 Ehejahren mit seiner Frau Annita 2004 Witwer wurde, 2006 seine langjährige Sekretärin heiratete - ohne der Familie Bescheid zu sagen.
Schmied würdigt „prägenden Architekten“
Niemeyer hatte auch zu Österreich Bezug. Als Mitglied der Kurie für Kunst und Träger des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst würdigte ihn Kulturministerin Claudia Schmied (SPÖ) Donnerstagfrüh als „international prägenden“ Architekten. Niemeyer habe nicht nur „einfach Gebäude geplant“: „Mit seinen Entwürfen verknüpfte er immer auch die Idee eines radikalen Gesellschaftsmodells. Für ihn war seine Kunst manifeste Hoffnung und die Vorwegnahme einer Zukunft, der er zunächst ein architektonisches Gesicht verlieh.“
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