Gleiche Krise, andere Voraussetzungen
Zehn Jahre nach der letzten großen Krise floriert die Wirtschaft der Türkei. Nachdem zuletzt die Ratingagentur Fitch türkische Anleihen zum ersten Mal in 18 Jahren nicht mehr als Ramsch bewertete, sehen Ökonomen die Türkei bereits als Vorbild für Griechenland. Doch innerhalb des Landes werden Zweifel am Wirtschaftswunder laut.
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Niemand versteht wohl die Lage, in der sich Griechenland momentan befindet, besser als der ewige Konfliktpartner Türkei. 2001 stand das Land aufgrund seines maroden Bankensystems und massiver Kapitalflucht am Rande des Staatsbankrotts. Ein Hilfskredit über 31 Milliarden Dollar (24 Mrd. Euro) des Internationalen Währungsfonds (IWF) konnte der Konkurs im letzten Moment abwenden.
Vom Krisenland zur Exportnation
Das Geld gab es jedoch nur gegen strenge Sparauflagen, die das Land in die schlimmste Rezession der türkischen Geschichte schlittern ließen. Die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe, und 21 Banken mussten Insolvenz anmelden. Ein Szenario, wie man es heute von Griechenland kennt. Doch in einigen Bereichen war die türkische Regierung konsequenter als ihre griechischen Kollegen: Zahlreiche staatliche Unternehmen wurden privatisiert und das Bankensystem von Grund auf reformiert.

Reuters/Osman Orsal
Reges Treiben am Bosporus
„Die Türken haben einen guten Job gemacht“, sagte der Volkswirt Markus Jäger gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“). Aber sie hatten auch einen entscheidenden Vorteil: eine eigene Währung. Durch eine kräftige Abwertung der türkischen Lira wurden die Produkte im Ausland billiger, der Export florierte. Und ausländische Waren wurden teurer, was den heimischen Herstellern zugutekam.
Den Griechen bleibt dieser „Zaubertrick“ verwehrt. Gebunden an einen starken Euro fällt die Geldentwertung als Mittel zum Schuldenabbau weg. Stattdessen muss die Regierung ein hartes Sparprogramm durchboxen, das unter anderem so unpopuläre Maßnahmen wie die Kürzung von Löhnen und Pensionen beinhaltet.
Aufschwung dank stabiler Mehrheit
Auch politisch ist die Ausgangssituation für Griechenland eine andere. Während der griechische Regierungschef Antonis Samaras Mühe hat, seine Koalition beim Sparprogramm auf Kurs zu halten, reichten der AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bei ihrem ersten Wahlantritt im November 2002 schon knapp 34 Prozent, um ohne Koalitionspartner regieren zu können. In den folgenden Jahren baute die Erdogan-Partei ihren Stimmenanteil sukzessive auf zuletzt rund 50 Prozent aus.
Erdogan schaffte das Kunststück, die chronische Instabilität in Ankara zu beenden und damit Ruhe in die Wirtschafts- und Finanzpolitik zu bringen. Nach den ersten Jahren, als die galoppierende Inflation zwar die Schuldenberge schmelzen ließ, gleichzeitig aber die Preise in schwindelnde Höhen trieb, kommen die Reformen nun auch bei den Bürgern an. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist seit 2002 von 3.500 auf 10.400 Dollar (von knapp 2.700 Euro auf gut 8.000 Euro) im Jahr gestiegen. Dadurch verbreitert sich die Mittelschicht zunehmend.
„Beginn einer neuen Ära“
Eine Aufwertung durch die Ratingagenturen war aufgrund der vorliegenden Zahlen bereits erwartet worden. Die Verbesserung „BBB-“ auf „BB+“ durch Fitch sei längst überfällig gewesen, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Ali Babacan in einer ersten Reaktion. „Das ist der Beginn einer neue Ära für den Zugang unseres öffentlichen und privaten Sektors zu den internationalen Kapitalmärkten.“
„Das ist gut für das Selbstvertrauen der Türkei und wird auch neue Investoren in das Land locken“, sagte der Analyst Timothy Ash von der Standard Bank gegenüber Reuters. Er und auch andere Analysten gehen davon aus, dass die anderen großen Ratingagenturen Moody’s und S&P dem Beispiel von Fitch folgen werden.
Auch Erdogan zeigte sich bei seinem Besuch in Deutschland Ende Oktober selbstbewusst: „Wir erstarken von Tag zu Tag.“ Ein Wachstum von 8,5 Prozent, 115 Milliarden Dollar Währungsreserven und eine Neuverschuldung von nur 1,5 Prozent sprächen für sich. „Die Maastricht-Kriterien können wir einhalten - im Gegensatz zu vielen anderen“, sagte Erdogan und spielte auf Länder mit schlechteren Wirtschaftsleistungen, aber besseren Ratings an.
Herabstufung bei Syrien-Intervention?
Auch die anderen Ratingagenturen überlegen, der Türkei den „Investment-Grade“-Status zurückzugeben. Doch sie zögern noch. Die Spannungen zwischen säkularen und geistlichen Strömungen innerhalb der türkischen Gesellschaft seien ein kritischer Faktor, erklärte Moody’s Anfang November. Auch im eigenen Land wird die Kritik an Erdogans Politik abseits seines ehrgeizigen Wirtschaftsprogrammes immer lauter. „Die vergangenen zwei Jahre waren katastrophal“, sagte Baskin Oran, Politologe an der Universität Ankara, der Nachrichtenagentur AFP.

APA/EPA/Nic Bothma
Oppositionschef Kilicdaroglu sieht die AKP-Jubelmeldungen kritisch
Der Neuansatz in der Kurdenfrage drohe im Sande zu verlaufen, der EU-Verhandlungsprozess sei zum Stillstand gekommen, und die Justiz gehe mit dem groben Knüppel des Anti-Terror-Gesetzes gegen Journalisten vor, so Oran. Auch für Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu von der CHP kommt das Upgrading unverdient. „Die AKP-Regierung hat sämtliche von ihr selbst gesetzten wirtschaftlichen Ziele verfehlt.“
Kilicdaroglu sieht in der Entscheidung von Fitch vielmehr einen klaren politischen Hintergrund: „Der Fitch-Bericht sagt der Türkei: Interveniert nicht in Syrien, sonst werden wir Euch wieder herabstufen!“, sagte Kilicdaroglu in seiner Rede vor dem türkischen Parlament.
Zu früh, sich auf Lorbeeren auszuruhen
Der Hauptvorwurf von Ökonomen und Oppositionspolitikern gleichermaßen lautet, dass die Regierungspartei im Laufe der Jahre selbst zum Teil eines rigiden Staatsapparates geworden sei. Davon könnten auch die guten Wirtschaftszahlen nicht ablenken, zumal sich hier dunkle Wolken zusammenbrauen. Als Exportnation spürt die Türkei die sinkende Nachfrage aus Europa besonders stark. Im nächsten Jahr dürfte das Wachstum auf etwa drei Prozent einbrechen. Im internationalen Vergleich ist das zwar immer noch hoch, doch um sich auf den Lorbeeren auszuruhen, ist es für die Türkei deutlich zu früh.
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