Vom Expertenthema zum Massenprotest
Netzpolitik war lange Zeit ein Thema, das nur wenige Experten interessiert hat. Doch der Streit über Patente, Netzneutralität, Urheberrecht und Internetzensur hat 2012 mit voller Wucht die Mitte der Gesellschaft erreicht. Am Rande des ersten österreichischen Kongresses für Netzpolitik hat ORF.at mit dem Organisator Andreas Krisch über die anstehenden Konflikte gesprochen.
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Die digitale Informationstechnik treibt als einer der dynamischsten Bereiche den Rest der Gesellschaft oft vor sich her. Wenn Facebook, Google und der Staat ihren Hunger nach persönlichen Daten stillen wollen, bleiben in jüngerer Zeit die Grundrechte der Bürger häufig auf der Strecke. Unter dem Titel „Daten, Netz & Politik“ debattieren Informatiker, Aktivisten und Politiker im Kabelwerk Wien die zentralen Themen der Internetgesellschaft.
Viele dieser Fragen berühren die Freiheiten jedes einzelnen Nutzers direkt - etwa die Frage nach der Netzneutralität: Sollen Mobilfunker verhindern können, dass ihre Kunden in ihren Netzen Skype verwenden? Oder die Frage nach dem Schutz des Urheberrechts, den die Medienindustrie am liebsten dadurch gesichert sehen würde, indem die Provider den gesamten Datenverkehr in ihren Netzen lückenlos überwachen und mutmaßliche Schwarzkopierer durch Internetentzug bestrafen.

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Andreas Krisch ist selbstständiger Wirtschaftsinformatiker. Der 42-jährige Wiener ist Mitgründer und seit acht Jahren Vorstandsmitglied der Bürgerrechtsorganisation European Digital Rights Initiative (EDRi).
Veranstalter des Kongresses ist die Bürgerrechtsplattform Unwatched.org, die auch den Protest gegen die umstrittene Vorratsdatenspeicherung - den staatlichen Zugriff auf Telefonie- und Internetverbindungsdaten - mit organisiert hat. „Wir wollten die Energie aus den ACTA-Protesten dazu nutzen, die verschiedenen Gruppen zusammenbringen, die sich mit Netzpolitik, Datenschutz und Informationsfreiheit beschäftigen“, so Veranstalter Andreas Krisch gegenüber ORF.at.
Staat und Konzerne hören mit
„Wir stellen jetzt die Weichen dafür, ob es in 100 Jahren noch möglich sein wird, anonym, privat und unbeobachtet zu kommunizieren“, umreißt Krisch das Kernthema des Kongresses: „Die Post darf nicht protokollieren, wer wem wann einen Brief geschickt hat. Mit der Vorratsdatenspeicherung soll das im Internet aber ganz normal sein. Auch Facebook protokolliert genau, wer wann mit wem kommuniziert - auch die auf privat gestellten Inhalte.“
Netzpolitik soll die Grundlage dafür schaffen, dass Bürger, Unternehmen und Staat frei und gleichberechtigt kommunizieren können. „Wir beschäftigen uns damit, welchen Regeln die Internetinfrastruktur unterworfen sein soll“, sagte Krisch. „Es ist auch interessant, neue Möglichkeiten zur Partizipation für die Bürger zu schaffen. Aber so weit sind wir noch nicht. Wir müssen erst dafür sorgen, dass man sich überhaupt unbeobachtet miteinander übers Internet unterhalten kann“, so Krisch weiter.
Falscher Ansatz für direkte Demokratie
Für Krisch ist Netzpolitik die Voraussetzung dafür, dass Politik im Netz überhaupt möglich wird: „Es ist schon skurril, wenn wir über direkte Demokratie so diskutieren, als ob das Problem darin bestünde, ob wir über E-Voting einen Vorschlag annehmen oder ablehnen können. Man muss auch jedem Einzelnen die Möglichkeit geben, sich zu beteiligen und sich schon vorher darüber unterhalten zu können, worin das Problem eigentlich besteht - und welche Lösungen man dafür finden kann.“

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Februar 2012: Mehrere tausend Menschen protestierten in Wien gegen ACTA
Die starken Proteste gegen das Handelsabkommen ACTA, mit dem Filesharer kriminalisiert und die Provider zur Kontrolle der Inhalte in ihren Netzen hätten gezwungen werden sollen, haben die Themen der Netzpolitik in das Bewusstsein weiter Kreise der Bevölkerung gerückt. Die von Krisch mit organisierte Bürgerinitiative gegen die Vorratsdatenspeicherung war mit über 106.000 Unterstützern eine der erfolgreichsten der zweiten Republik.
Die starke Resonanz hat den Bürgerrechtsaktivisten selbst überrascht: „Vor zwei Jahren hätte ich mir nicht gedacht, dass eine riesige Demonstration gegen ACTA über den Ring ziehen würde.“ Das neue Interesse für die Netzpolitik führt Krisch auf den demografischen Wandel zurück: „Die jungen Leute sind mit dem Internet aufgewachsen und wehren sich gegen schlechte Politik. Sie sagen: ‚Jetzt reicht es uns.‘“

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Kreativer Protest gegen Inhaltekontrollen im Netz
Facebook macht mobil
Dass die Themen der Netzpolitik zum Teil sehr komplex und abstrakt sind, scheint die neue Netzgeneration nicht abzuschrecken. „Die Komplexität ist nicht das Problem, man kann das schon auf zehn Punkte herunterbringen“, so Krisch. „Die Leute lesen das schon und beschäftigen sich damit. Man muss ihnen nur die Möglichkeit bieten, sich zu beteiligen.“
Da die technische Umgebung sehr dynamisch ist, geraten Bürgerrechtler und Datenschützer gegenüber mächtigen und schnellen Konzernen wie Google und Facebook schnell in die Defensive. Krisch glaubt trotzdem, dass sich die Bürgerinitiativen durchsetzen werden: „Ich arbeite in vielen Gremien auf EU-Ebene mit und bin dort der Einzige, der sich frei und entspannt äußern kann. Die anderen müssen Ränke schmieden, ihre Strategien verfolgen und Dinge geheim halten.“
EU offener als Österreich
Als eines der wichtigsten Ergebnisse der ACTA-Proteste sieht Krisch die verbesserte Kommunikation zwischen nationalen Bürgerrechtsorganisationen auf EU-Ebene. „Wir haben 2002 die European Digital Rights Initiative (EDRi) als Dachverband der Zivilgesellschaft in Brüssel gegründet“, so der Informatiker, „damals waren es zehn Organisationen, heute sind es über 30. Wir haben auch ein Büro mit drei Mitarbeitern.“
Es sei für die Bürgerrechtler einfacher, in den EU-Institutionen wie Kommission und Parlament Gehör zu finden, als mit österreichischen Politikern Kontakt aufzunehmen, so Krisch: „Österreich sollte sich an der EU orientieren, was Transparenz, Zugänglichkeit und Partizipationsmöglichkeiten betrifft. Die Reaktionen aus dem Nationalrat auf unsere Bürgerinitiative gegen die Vorratsdatenspeicherung waren schwach, die Antworten aus den zuständigen Ministerien eine glatte Themenverfehlung.“ Die EU-Strukturen seien offener als das heimische System der Sozialpartnerschaft.

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Proteststurm gegen Frauentickets
Krisch will, dass der erste Netzpolitikkongress nicht der letzte ist. Sein wichtigstes Ziel für die nächsten Veranstaltungen ist aber kein technisches, sondern ein sozialpolitisches: „Ich will, dass wir im Sinn der Gleichberechtigung möglichst schnell auf mindestens 50 Prozent weibliche Kongressteilnehmer kommen.“
Im Vorfeld des Kongresses habe es daher den Vorschlag gegeben, vergünstigte Frauentickets anzubieten, der dann auch umgesetzt wurde. „Das hat zu einem Proteststurm seitens männlicher Interessenten und heftigen Diskussionen im Netz geführt“, sagt Krisch. „Die Empörung hat mir gezeigt, dass da noch Handlungsbedarf besteht.“
Günter Hack, ORF.at
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