Baustellen auf engstem Raum
Unter der Londoner City entsteht gerade das größte Infrastrukturprojekt Europas. Eine Eisenbahnverbindung soll künftig in Ost-West-Richtung quer durch die Millionenmetropole führen. Das 16 Milliarden Pfund (18 Mrd. Euro) teure Projekt schlummerte fast 70 Jahre in den Schubladen. Bis 2017 soll es verwirklicht sein - auch mit Unterstützung österreichischer Firmen.
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Ohne Stau in 30 Minuten vom Londoner Flughafen Heathrow im Osten Londons quer durch die Stadt nach Stratford, wo künftig die Eurostar-Züge halten sollen - lange ein Traum in der verkehrsgeplagten britischen Hauptstadt. Ab 2017 sollen die ersten Schnellzüge zwischen den beiden internationalen Verkehrsknotenpunkten auf direktem - unterirdischem - Weg verkehren. Mit der Fertigstellung 2018 werden dann West- und Ostlondon von Maidenhead bis Shenfield über eine 180 km lange Schnellzugstrecke miteinander verbunden werden. Die Betreiber rechnen mit jährlich mehr als 200 Millionen Fahrgästen.

ORF.at
Die neue Nord-West-Verbindung quer durch die Londoner City
Pläne schon lange in Schublade
Die Pläne für das riesige Infrastrukturprojekt lagen schon lange in den Schubladen der Stadt. Bereits 1943 war in den Stadtentwicklungsplänen ein Bahntunnel vorgesehen, der quer unter dem Zentrum Londons hindurchführen sollte. Doch von den damals geplanten Eisenbahnlinien wurde letztendlich nur eine U-Bahn-Linie - die Victoria Line - realisiert.
In den 70er Jahren, als die Verkehrsprobleme überhandnahmen, wurde wieder laut über unterirdische Zugstrecken nachgedacht. Auch eine direkte Anbindung zum Flughafen Heathrow war in den Plänen vorgesehen. Doch die geschätzten Kosten von rund 300 Millionen Pfund ließen das Projekt rasch wieder in den Aktenschränken verschwinden.

Crossrail
Die Tunnel werden mit einem Innendurchmesser von sechs Metern gebohrt
In den folgenden 20 Jahren scheiterten alle Versuche, per Gesetz neue Schnellbahnlinien (unter anderem von Paddington bis Liverpool Street) durchzusetzen. 2001 kehrte die Idee - diesmal mit einem schlagkräftigen Marketingkonzept und einer großangelegten Imagekampagne - in die Medien zurück. Mit Erfolg: 2005 segnete das Parlament das „Crossrail-Gesetz“ ab. Im Februar 2012 rückten die ersten Tunnelbohrmaschinen an.
Riesenbaustelle auf engstem Raum
Das Herzstück der rund 180 Kilometer langen Strecke sind zwei 21 Kilometer lange Tunnelabschnitte direkt unter der City. Dafür müssen auch acht neue unterirdische Stationen gebaut werden. Gleich bei mehreren Baustellen ist die Expertise österreichischer Unternehmen gefragt. An zwei zentralen Stationen, Whitechapel und Liverpool Street, ist unter anderem die österreichische Alpine BeMo Tunnelling in einem internationalen Joint Venture beteiligt.

Crossrail
Unterirdischer „Schichtbetrieb“
Die Herausforderungen für die Tiroler ALPINE-Bau-Tochter sind enorm. Bei Whitechapel stehen für die gesamte Baustelle 20 mal 50 Meter zur Verfügung - eine Fläche in der Größe eines Einfamilienhausgrundstücks. Auf diesem Areal müssen der 12,5 Meter breite Zugangsschacht, eine leistungsfähige Betonmischanlage und ein Zwischenlager für Ausbruchsmaterial Platz finden. Da sei genaue Planung das A und O, wie Bereichsleiter Leo Falkner gegenüber ORF.at erklärte.

Crossrail
Die Baustelle ist aus Lärmschutzgründen völlig eingehaust
Der An- und Abtransport bedarf einer logistischen Meisterleistung. Lkws mit Ausbruchsmaterial wechseln sich im Takt mit Lieferungen von Diesel, Zement, etc. ab. Dabei darf nie mehr als ein Lkw vor der Baustelle haltmachen, damit der Verkehr nicht ins Stocken gerät. „Aber die Londoner sind darauf trainiert“, erzählt Falkner, der seit den 1990er Jahren regelmäßig Projekte in Großbritannien betreut.
Schallisoliert und staubfrei
Sämtliche Einrichtungen wurden so optimiert, dass ein ungestörter Tunnelvortrieb ohne Verletzung des bestehenden Wochenend- und Nachtfahrverbots möglich ist. Dafür waren vor allem rigorose Lärmschutzmaßnahmen nötig. So wurde die gesamte Baustellenfläche mit einer akustisch geschützten Stahlhalle eingehaust. Erst dann konnte mit dem Bau des 30 Meter tiefen Zugangsschachtes begonnen werden. „Die gesamte Baustelle wird akustisch und auf Staubentwicklung hin streng überwacht“, so Falkner. Von außen ist die Baustelle nur an der „Crossrail“-Umzäunung erkennbar.
Ganzer Stadtteil künstlich stabilisiert
Ähnlich schwierig gestalten sich die Arbeiten in der Liverpool Street. Die Station entsteht unter den historischen Bankgebäuden an der berühmten London Wall im Herzen des Londoner Bankzentrums. Auch hier ist Platz Mangelware, und die Baustelle drängt sich in einer Ecke des idyllischen Finsbury Circus Parks, wo nur wenige Meter unter der Oberfläche auch die U-Bahn-Linie Hammersmith & City Line verläuft. Da die Baustelle bei normalem U-Bahn-Betrieb läuft, dürfen über dem U-Bahn-Bereich keine schweren Fahrzeuge rollen. Das Ausbruchsmaterial muss daher über Förderbänder abtransportiert werden.

Crossrail
Bei der Station Liverpool Street führen die Crossrail-Tunnel unter der U-Bahn-Strecke hindurch
Während der Bauzeit werden sämtliche Gebäudefassaden, Straßen- und Gehsteigoberflächen sowie alle bestehenden unterirdischen Bauwerke des gesamten Stadtteils vermessungstechnisch überwacht, um sofort auf Oberflächensetzungen reagieren zu können. Dafür wurde aus eigens errichteten Tunneln ein rund elf Kilometer langes Bohrlochsystem angelegt, das es im Fall des Falles ermöglicht, unter den Gebäudefundamenten gezielt Hebungsinjektionen mit Zement zu setzen, um die entstandenen Setzungen infolge des Tunnelvortriebes ausgleichen zu können.
Tottenham Court Road wird verdoppelt
Weitere knifflige Baustellen sind die Erweiterungen der bereits jetzt hoffnungslos überlasteten U-Bahn-Knotenpunkte Tottenham Court Road und Paddington. Die 112 Jahre alte Haltestelle Tottenham Court Road wird jährlich von rund 34 Mio. Fahrgästen frequentiert. Durch Crossrail wird das Passagieraufkommen nach Schätzungen um weitere zehn Prozent steigen. Zudem soll künftig auch das nächste Großprojekt Crossrail 2, eine Südwest-Nordost-Verbindung zwischen Chelsea und Hackney, hier Station machen. Derzeit wird der unterirdische Bahnhof auf die doppelte Größe erweitert - die Kassenhalle sogar auf die sechsfache -, und ist daher seit 2011 gesperrt.

Crossrail
Grafische Darstellung der Station Tottenham Court Road
Auch der Kopfbahnhof Paddington, an dem die internationalen Gäste von Heathrow kommend derzeit in die U-Bahn-Linien umsteigen, muss für Crossrail völlig umgebaut werden. Die größte Schwierigkeit ist dabei, die Bauarbeiten so zu gestalten, dass der Strom der täglich 26.000 Fahrgäste ungehindert durch das Bahnhofsgelände gelangen kann.
Neue Verkehrsknotenpunkte entstehen
Bereits fast abgeschlossen sind die Vorarbeiten am Bahnhof Farringdon. Dort werden künftig die Eisenbahnstrecken Thameslink und Crossrail sowie die drei U-Bahn-Linien Circle Line, Hammersmith & City Line und die Metropolitan Line zusammentreffen. Bereits 2007 nutzten 20 Mio. Fahrgäste diese Halte- und Umstiegsstelle, mit Crossrail sollen es noch deutlich mehr werden. Damit wächst Farringdon zu einem bedeutenden Verkehrsknotenpunkt heran. Für die Spezialtiefbauarbeiten ist seit März 2011 auch die österreichische STRABAG vor Ort. Bis Februar nächsten Jahres sind sie bei den Erdarbeiten zur Errichtung der Schächte beteiligt.

Crossrail/Geodata
Die Bauarbeiten an der Farringdon Station
Wie in den übrigen zentralen Stationen müssen auch in Farringdon die umliegenden Gebäude sowie das bestehende Baulos ständig auf Veränderungen hin überprüft werden. Für diese Aufgabe hat der steirische Vermessungsspezialist Geodata den Zuschlag bekommen. Die besondere Herausforderung sei dabei nicht so sehr der Londoner Ton, durch den die Tunnel gegraben werden, sondern die zahlreichen bestehenden Tunnel und Schächte, die auf dem Weg in 35 bis 40 Meter Tiefe gekreuzt werden müssen, erklärt Projektleiter Peter Berger gegenüber ORF.at.
Enormer Personalaufwand
Der Arbeitsaufwand für das größte Infrastrukturprojekt Europas ist enorm. Bis zu 14.000 Menschen sind direkt oder indirekt daran beteiligt. London achtet als Auftraggeber aber besonders darauf, neben zahlreichen internationalen Firmen auch lokale Arbeiter heranzuziehen. „Gerade die vielen Jobs sorgen auch dafür, dass das Projekt bei der Bevölkerung sehr gut angenommen wird“, berichtet Falkner von seinen Erfahrungen in London.
Strenge Sicherheitsvorschriften erfordern es zudem, dass für Arbeiten, die in Österreich von sechs bis zehn Personen erledigt werden, in London bis zu 40 Menschen gebraucht werden. Ein Grund sei laut Berger auch die Ausbildung. Englische Arbeiter seien oft sehr spezifisch nur für eine Tätigkeit ausgebildet, erklärt der Geodata-Experte. Um den riesigen Bedarf an Facharbeitern zu decken, werden in der eigens ins Leben gerufenen Tunneling & Underground Construction Academy Personen in Fachbereichen wie Betonmischung oder Kraftwagenfahrer ausgebildet. Die ersten tausend Absolventen haben im Juli die Academy bereits verlassen.
Gabi Greiner, ORF.at
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