Im Loop des ewigen Lebens
Man mag Chai Latte, findet Yogakurse sinnvoll. Aber liebt man immer noch „Siddhartha“ so wie in den ersten Tagen der Lektüre? Eher nicht. Wenn einem Taten in der Jugend noch so etwas wie peinliches Erröten verursachen, dann gehört die Relativierung früherer Liebe zu Hermann Hesse mittlerweile zum guten Ton.
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Als Störenfried mit Stinkefinger präsentiert ihn der „Spiegel“ in der aktuellen Ausgabe - und lässt zugleich die konservative Edelfeder Matthias Mattusek zur Hesse-Verteidigung anlässlich des 50. Todestages des Schriftstellers ansetzen. Das wirkt wahrlich nicht so, als wäre hier ein Modernist zu verteidigen.

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Hesse im Blumengarten mit Stinkefinger im aktuellen „Spiegel“
Jeder Zeit ihren Autor
Dabei ist gerade Hesse mit seinem langen Leben und einem Schaffen, das sich über zwei Weltkriege zieht, ein idealer Seismograph für die Reaktion von Kunst auf Strömungen des 20. Jahrhunderts. Mehr noch: Hesse bietet so etwas wie ein Lehrstück dafür, wie Auseinandersetzungen mit literarischen Texten letztlich Moden der jeweiligen Zeit unterworfen sind. Und in der Verehrung für Hesse, von dem weltweit mehr als 150 Millionen Bücher verkauft wurden, scheinen ganz unterschiedliche Zeitgenossen geeint: Ulrike Meinhof etwa ebenso wie Udo Lindenberg.
Wenn zum 50. Todestag von Hesse über dessen mehr als üppiges (nicht nur textliches) Werk diskutiert wird, dann fällt eines auf: Es geht immer um Inhalte, quasi die Hesse-Themen schlechthin: die Sinnsuche, die Auflehnung, den Anarchismus, die Spiritualität. Selten diskutiert man aber die Form und künstlerische Bauart seiner Romane.
„Texte wie Traubenzucker“
Auch der Herausgeber der Schriften Hesses, Volker Michels, bemüht in der Verteidigung seines Leib-und-Magen-Autors bei Suhrkamp genau die Themenführerschaft von Hesse unter den „klassischen“ Autoren. Hesse, so Michels, artikuliere Themen, die zeitlos seien und jede Generation beschäftigten. „Hesse zu lesen bedeutet Spaß und nicht Arbeit. Seine Texte gehen runter wie Traubenzucker“, so der Hesse-Herausgeber.
„Immer wieder wacht ein Kritiker auf und stellt erstaunt fest, dass Hesse ja genauso gut schreibt wie Musil (...), dass er politisch hellsichtiger war als Thomas Mann“, schrieb jüngst der Schriftsteller Michael Kleeberg in einem Essay in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Dem werden Musil-Experten (mit Ausnahme ähnlicher Themenführung zwischen „Unterm Rad“ und dem „Törless“) möglicherweise nicht ganz zustimmen wollen - auf der anderen Seite eint Musil und Hesse eins: die grundsätzliche Abneigung durch den als „Literaturpapst“ apostrophierten Marcel Reich-Ranicki.

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Das Geburtshaus von Hesse in Calw in einer Aufnahme aus dem Jahr 1953. Vor dem Zweiten Weltkrieg war das Haus ein altes Fachwerksgebäude.
Die Auflehnung führt zum Text
Hesse, der Autodidakt aus dem pietistischen Elternhaus, in dem es zumindest an vollen Bücherregalen nicht mangelte, war, was sein Schreiben anlangte, zunächst auch mehr von der thematischen Frage als von Formexperimenten getrieben. Da ist der Einfluss der deutschen Romantik eines Novalis, Brentano, Eichendorff und Tieck, die den Schulabbrecher und jungen Buchhandelslehrling inspirierten. Da ist aber auch der Kampf um Unabhängigkeit von Instanzen wie Schule und Eltern und die Notwendigkeit, das bis zu Werken wie „Unterm Rad“ festzuhalten.
Gerade erst hat Suhrkamp den frühen Briefwechsel Hesses herausgegeben, der vor allem Auflehnung, Willensstärke und Eigensinn des jungen Mannes demonstrieren soll: „Ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen“, steht als Motto über diesem Briefwechsel, der die Zeit bis zum Erscheinen von „Peter Camenzind“ (1904) abdeckt.
Hesses nachhaltigster Roman
Zur schriftstellerischen Form findet er eigentlich erst relativ spät, in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, wo ihm mit „Steppenwolf“ sein wahrscheinlich maßgebliches und sowohl thematisch wie kompositorisch dichtestes Werk gelingt.
„Ich nahm mir vor, dass ich an meinem 50. Geburtstag, also in zwei Jahren, das Recht haben werde, mich aufzuhängen“, liest man im „Traktat zum Steppenwolf“, der für die Erstauflage noch separat gebunden wurde und den Hesse mit den Initialen H.H. zeichnete. Zur selben Zeit befand sich Hesse, ungefähr gleichaltrig, in einer ähnlichen Lebenskrise - und wie ein Romantiker verband er Leben und Werk, spielte aber vor allem mit der Autorenfunktion und konstruierte, für sein Werk davor noch untypisch, verschiedene Erzählinstanzen rund um das radikale Leben seines Helden Harry Haller und dessen Gesellschaftsekel.

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Hesse an seinem Schreibtisch in Montagnola zwei Jahre vor seinem Tod
Das doppelte Wesen Mensch
Haller ist Bürger, ja mehr Bürger als Hesse selbst, zugleich auch Genie und „Wolf“, ein doppeltes Wesen, das neben Anpassung zugleich von der Ahnung der eigenen Genialität und damit Ablehnung aller Konventionen getrieben wird. Haller ist ein Hesse’scher Held, immer zwischen zwei Welten, zwei Kulturen eingeklemmt, nur flieht Hesse in diesem Text nicht in neue krypto-religiöse Welten, sondern lokalisiert auch den kulturellen Konflikt in der Person selbst.
Verschiedene psychoanalytische bzw. tiefenpsychologische Schulen lassen hier grüßen. Über die traum- und wahnhafte Gegenwartserfahrung seines Helden bricht Hesse aber im Deutschland der 1920er Jahre zugleich klassische Rollenmuster auf: Da ist etwa Hermine, die androgyne Frau aus dem Tanzcafe, die ihn zunächst vage an einen Mann, einen Hermann, von früher erinnert. Hermine ist die Geliebte als Schwester (hier mag man wieder Bezüge zu Musil entdecken), die Wesensverwandte, die alle Wünsche plastisch macht, ja zu erfüllen scheint. Hermine kündet als Doppel Hallers von seiner wahren Existenz, davon, dass sie zu den Menschen „mit einer Dimension zu viel“ gehörten. Einst, so raunt sie ihm zu, werde er sie töten müssen.
Ein Text als Höllenfahrt
Im Schreibakt nähert sich Hesse hier seiner Personenkonstruktion an. Hesse lässt Haller in der Hölle schmoren, nachdem er mehrere Liebeswirren geschafft hat und die wahre sexuelle Ekstase wenn im „hermaphroditischen Zauber“ blühen lässt. In der Hölle endlich verliert Haller die Hülle seiner Person - das Individuum geht in einer „Unio mystica“ der Freude unter. Im selben Jahr, in dem Hesses Text erscheint, brennt in Wien der Justizpalast, wird der junge Elias Canetti genau das Kippen des Einzelnen in die Massenpsychose notieren und später in seinem Großessay „Masse und Macht“ (1960) zu synthetisieren suchen.
Hesse schafft mit Haller einen modernen Faust, einen, der im Loop des ewigen Lebens und Ausgelachtwerdens strandet und der doch zugleich weiter vom Trieb besessen ist, das Spiel der Auflösung seiner Person und Tötung seines anderen Ichs beim nächsten Mal besser zu spielen.
Eine Generation berauscht sich an Hesse
40 Jahre nach dem Erscheinen des Romans wird sich eine ganze Generation an dem Werk Hesses berauschen. Eine Rockband benennt sich nach dem Roman - und ihr Song „Born To Be Wild“ wird zum Triebmittel der Helden im Kultfilm „Easy Rider“. Hallers „rasende Lust, irgendwas kaputt zu schlagen, etwa ein Warenhaus oder eine Kathedrale oder mich selbst“, wird zum Imperativ einer ganzen Generation.
Zum Zeitpunkt, wo Hesse zum Rauschmittel einer neuen Gesellschaftsbewegung wird, ist er schon einige Jahre tot. In Montagnola im Tessin, hoch über dem Luganer See, hatte sich Hesse seit längerem ein Refugium gesucht, in dem er den für ihn wohl auch nötigen Sicherheitsabstand zur deutschen Kultur hatte. „Bitte keine Besuche“, stand auf dem Türschild seines Hauses, von dem Hesse je nach Himmelsrichtung auf Italien oder die Schweiz zu schauen vermochte.
Hesse als Mentor der Moderne
In der Schweiz war Hesse, der 1946 auch den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekommen hatte, schließlich so gut etabliert, dass er zum Geburtshelfer einer wichtigen Institution des Literaturbetriebs werden konnte: dem Suhrkamp Verlag. Peter Suhrkamp, der in den 1930er und 1940er Jahren als Vorstand die in Deutschland verbliebenen Teile des S. Fischer Verlags gegen Widerstände durch die Nazi-Zeit brachte (Gottfried Bermann Fischer war über Wien ins Exil nach Schweden gegangen und hatte dank Hilfe der Verlegerfamilie Bonnier den Exilverlag in Stockholm fortführen können), entschied sich 1950 für die Trennung der Kooperation mit Bermann Fischer.
Hesse war maßgeblicher Mentor für den Weg Suhrkamps in die Unabhängigkeit - und er brachte mit der Schweizer Familie Reinhart auch die entscheidenden Geldgeber für die Neugründung des Verlags ein. Hesse half damit einem Verlag auf die Beine, der maßgeblicher Motor für die Verbreitung moderner und zeitgenössischer Literatur wurde - etwa durch die 1951 gebildete Bibliothek Suhrkamp. Gleichzeitig begann in den 1950er Jahren so etwas wie die erste Abrechnung mit Hesse.

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Auf der anderen Seite der Bucht und der Stadt Lugano fand Hesse im Ort Montagnola seinen Alterssitz
„Vernichtend viele niveaulose Verse“
Hesse galt vor dem Boom in den 60ern als Vertreter antimodernistischer, kitschiger Literatur. „Dass Hesse so vernichtend viele völlig niveaulose Verse veröffentlicht hat, ist eine bedauerliche Disziplinlosigkeit, eine literarische Barbarei“, konnte man etwa 1957 in der Streitschrift „Kitsch, Konvention und Kunst“ lesen. Autor dieser Zeilen ist Karlheinz Deschner, den die Welt mittlerweile aus gutem Grund mehr als Religionskritiker denn als Schriftsteller von Rang kennt. Dennoch schlossen sich viele diesem Verdikt an.
Dass diese Ablehnung bis in die Gegenwart wirkt, ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass man Hesse entweder aus Frühwerken wie „Unterm Rad“ wahrnimmt oder über eigentümliche Bildungsromane wie „Das Glasperlenspiel“, diese eigenwillige Morgenlandfahrt mit Querverweisen auf Religion und Archetypen-Forschung.
Ein Lebensratgeber?
Hesse, das ist eher der Lebensratgeber, und so scheint auch sein Verlag bemüht, gerade die Rolle Hesses als Mentor für Sinnfragen zu zementieren: „Wenn wir uns die Struktur der Leser ansehen, dann wird Hesse vor allem von Jugendlichen und jungen Menschen gelesen und danach wieder von denen, die ihr Berufsleben schon hinter sich haben.“ Hesse, so Michels, sei kein Autor für Erfolgsmenschen und Karrieristen. Doch an Erfolgsmeldungen scheint die Gegenwart ohnedies nicht so reich.
Vielleicht werden sich wieder mehr Menschen anhalten an einem Autor, der so elegant an allem zweifelte und seine Weltablehnung in die blumigste Prosa gießen konnte. Wenn es 2012 gegen alle Ablehnungsorgien einen Hesse zu entdecken gibt, dann wohl immer noch den Autor des „Steppenwolfs“.
Gerald Heidegger, ORF.at
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