Neuwahl nach Verfassungsreferendum
Ungeachtet einer Entscheidung des Verfassungsgerichts hat der neue ägyptische Präsident Mohamed Mursi am Sonntag die Auflösung des Parlaments annulliert. Mursi habe laut der amtlichen Nachrichtenagentur MENA per Dekret die Entscheidung des Gerichts vom 15. Juni wieder aufgehoben und das Parlament aufgefordert, wieder zusammenzutreten und seine Rechte auszuüben.
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Das Dekret sehe zudem eine „vorgezogene Neuwahl des Parlaments 60 Tage nach einem Referendum über die neue Verfassung sowie die Verabschiedung eines neuen Gesetzes über die Rechte des Parlaments vor“. Das Parlament hatte erst vor knapp fünf Monaten seine Arbeit aufgenommen und wurde zwischen November und Februar in mehreren Runden gewählt - in ihm verfügen die Islamisten über eine klare Mehrheit.
Nach der Wiedereinsetzung des Parlaments durch Mursi ist der Oberste Militärrat des Landes am Sonntagabend zur einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen. Wie die amtliche Nachrichtenagentur MENA berichtete, beriet das Gremium unter seinem Vorsitzenden Hussein Tantawi über die Anordnungen des Staatschefs. Das Verfassungsgericht wollte am Montag über die Anordnung des Präsidenten befinden.
Einer der Generäle sagte zu Reuters, das Militär sei über den Schritt nicht vorab informiert worden. Auch für Experten kam die Entscheidung Mursis überraschend. Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Faruk Sultan bezeichnete das Dekret als „illegal“.
Zutritt zum Parlamentsgebäude verweigert
Das oberste Verfassungsgericht erklärte im Juni die Parlamentswahl wegen eines fehlerhaften Wahlgesetzes für ungültig. Der regierende Oberste Militärrat folgte dem Richterspruch und löste zwei Tage später die Volksvertretung auf. Die Entscheidung erfolgte parallel zur zweiten Runde der Präsidentschaftswahl, aus der der moderate Islamist Mursi als Sieger hervorging. Die Abgeordneten durften im Anschluss das Gebäude ohne Genehmigung nicht mehr betreten. Zudem übernahm der Militärrat die Kontrolle über Gesetzgebung und Haushalt.
Die Auflösung des Parlaments war von den Islamisten in Ägypten, aber auch von westlichen Politikern scharf kritisiert worden. Die Freiheit und Gerechtigkeitspartei, der politische Arm der Muslimbrüder, warf dem Militär vor, die Macht für sich zu monopolisieren und forderte ein Referendum über die Auflösung der Parlaments.
Rückzug von Militär aus Politik gefordert
Auch Mursi forderte wiederholt die Rechte des „gewählten Parlaments“ ein und forderte die Armee zum Rückzug aus der Politik auf: Die gewählten Institutionen würden ihre Aufgabe wieder wahrnehmen, und auch die „große ägyptische Armee“ werde zu ihrer Aufgabe zurückkehren, die Sicherheit des Landes zu schützen.
Gleichzeitig stellte er sich gegen die Entscheidung des Militärrats, wichtige Befugnisse des Staatschefs ebenfalls selbst zu übernehmen. Mit seinem Dekret setzte Mursi nun offenbar seine Ankündigung in die Tat um.
Sitze nicht verfassungsgemäß vergeben?
Die Verfassungsrichter in Kairo hatten entschieden, das Unterhaus des Parlaments habe seine Legalität verloren, da ein Drittel der Sitze nicht verfassungsgemäß vergeben worden sei. Ein Teil des Wahlgesetzes, das auch Parteimitgliedern die Kandidatur für Sitze unabhängiger Kandidaten erlaubt hatte, sei verfassungswidrig.
Ein Termin für die Wiederholung der Parlamentswahl war bisher vom Militärrat nicht festgelegt worden. Die Generäle hatten nach dem durch Massenproteste herbeigeführten Rücktritt von Langzeitmachthaber Hosni Mubarak im Februar 2011 die Macht übernommen und einen Fahrplan für die Übergangszeit vorgelegt, der durch die Parlamentsauflösung allerdings deutlich ins Stocken geraten ist.
Militär kontrolliert weiter Schlüsselstellen
Formell übernahm Mursi bei seiner Vereidigung als erster frei gewählter Präsident des Landes die Amtsgewalt aus den Händen des bis dahin regierenden Militärrats. Tantawi erwies dem neuen Präsidenten zwar den Respekt der Streitkräfte, die sich aber trotz des Machtwechsels nicht völlig in die Kasernen zurückziehen werden: Die seit dem Sturz der Monarchie 1952 tonangebenden Militärs halten weiterhin wichtige Fäden in der Hand.
Beobachter sind sich demnach einig, dass die Streitkräfte weiterhin maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung in dem nordafrikanischen Land haben werden: Im mächtigen und neu geschaffenen Nationalen Verteidigungsrat sicherten sich die Soldaten die Mehrheit. Außerdem ist Mursi nicht ihr Oberbefehlshaber und kann alleine nicht den Krieg erklären.
„Juristische Katastrophe“
Auch Verfassungsrechtler waren sich am Sonntag nicht einig, ob Mursis Dekret zur Wiedereinsetzung des Parlaments rechtens ist. Tharwat Badawi von der Universität Kairo vertrat im Gespräch mit der Zeitung „al-Ahram“ die Auffassung, dass Mursi „als einzig gewählte Autorität im Lande“ durchaus einen derartigen Beschluss fassen könne. Dem widersprach im Staatsfernsehen sein Kollege Mohammed al-Dhahabi, der das Dekret als „juristische Katastrophe und als Verstoß gegen juristische und verfassungsrechtliche Prinzipien“ einstufte.
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