Ein Missverständnis als Mitursache
An der Grenze zwischen Indien und Pakistan schwelt seit 1984 ein Konflikt, bei dem bisher mehr Soldaten durch extreme Wetterbedingungen und Lawinen als durch Kämpfe gestorben sind. In das mediale Rampenlicht rückte der Schauplatz, der Siachen-Gletscher, im letzten April, als eine Lawine fast 140 pakistanische Soldaten unter sich begrub. Erst Ende Mai wurden die ersten Leichen geborgen.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Mit dieser Tragödie - nicht der ersten ihrer Art in der Region - stelle sich erneut die Frage, „weshalb Indien und Pakistan das Leben Hunderter Soldaten für ein Stück unbewohnbare, eisige Ödnis“ opferten, so die britische Journalistin und Autorin Myra MacDonald in einem Gastbeitrag für das US-Magazin „Foreign Policy“.
Bis zur Entdeckung des Karakorum durch Extremalpinisten hatte die Region kaum jemanden interessiert, seit 2003 herrscht ein Waffenstillstand, kein Schuss sei seither mehr gefallen. Und trotzdem nehmen Indien und Pakistan immer wieder den Tod Dutzender Soldaten durch die extremen Wetterbedingungen in Kauf.
„Nicht ein Zentimeter Boden der Gegenseite“
Auf dem „kältesten Schlachtfeld der Welt“ sind mehrere Tausend Soldaten auf dem Gletscher stationiert, und das, so MacDonald, obwohl die Sinnlosigkeit und Absurdität des Konflikts auch den Kontrahenten längst klar sei. Zwar könne der Siachen-Krieg nicht gesondert vom breiteren Konflikt um die Grenzregion Kaschmir, der seit 1949 immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Indien und Pakistan geführt hatte, gesehen werden.

Reuters/Faisal Mahmood
Suche nach Lawinenopfern mit schwerem Räumgerät
Doch mittlerweile gehe es dabei lediglich noch darum, „dass nicht ein Zentimeter Boden“ der Gegenseite überlassen werden dürfe. Das hätten ihr immer wieder Soldaten beider Seiten gesagt, schreibt MacDonald. „Und das Resultat war ein Krieg mit vielen Opfern und wenig Nutzen, ausgetragen in einem Stellungskampf wie im Ersten Weltkrieg in einer Höhe von 18.000 Fuß (fast 5.500 Meter, Anm.).“
Eskalation im Jahr 1983
Bis zum Auftauchen moderner Karten mit der Region sei der Gletscher, ein „Niemandsland im wahrsten Sinne des Wortes“, kein großes Thema gewesen. Doch dann habe Pakistan den Nachbarn der „kartografischen Eskalation“ beschuldigt. Im Sommer 1978 stieg schließlich eine indische Militärexpedition in die Region auf, die Zeichen seien dabei aber noch nicht auf militärische Konfrontation gestanden.
„Das war kein Krieg“, sagte der Leiter der Expedition, Narendra „Bull“ Kumar, der britischen Autorin, „das war eine alpinistische Expedition.“ 1983 begannen dann beide Seiten, Truppen in die unwirtliche Region zu verlegen. Im April 1984 begann mit der indischen Operation „Meghdoot“ die Besetzung der Gletscherregion. Pakistan besetzte ebenfalls Teile davon.
Erklärung „zu simpel, um wahr zu sein“
Der Konflikt habe noch eine weitere absurde Seite, so MacDonald. Indien hätte eigentlich auf dem Gletscher aufmarschieren, seine militärischen Muskeln spielen lassen und anschließend vor Wintereinbruch wieder abziehen wollen. Doch Pakistan habe in dieser Situation an einen „größeren Schlachtplan“ geglaubt, etwa daran, dass Indien pakistanisches Territorium oder den Karakorum Highway, die Fernstraßenverbindung nach China, besetzen wolle. „Die simpelste Erklärung - dass Indien den Siachen besetzt hatte, nicht weil es ihn brauchte, sondern weil es nicht wollte, dass Pakistan ihn hat - schien zu einfach, um wahr zu sein.“
In den folgenden Jahren folgten brutale Kämpfe, teils Mann gegen Mann mit Bajonetten. „Auf dieser Höhe Gefangene zu machen, war kein Thema.“ Heute wie damals verlangt der Konflikt den Soldaten beider Seiten Extremes ab. „Sie sehen aus wie Tiere, wenn sie von oben zurückkommen, unrasiert, dreckig und dünn wie Bohnenstangen“, zitiert MacDonald aus einem Interview mit einem indischen Offizier, der darin einen dreimonatigen Einsatz auf dem Gletscher im Jahr 2003 beschrieb.
„Dort oben zu sein ist Wahnsinn“
Die Soldaten kauerten in isolierten Posten entlang einer über 100 Kilometer langen Linie, „werden halb verrückt von endlosem Weiß und müssen sich quälen, in einer Höhe zu essen, wo selbst Gehen eine Belastung ist“. Weitaus mehr Männer seien seit 1984 durch die Gefahren der Bergregion und die extreme Kälte als bei Gefechten gestorben. Erfrierungen an den Gliedmaßen seien eine ständige Gefahr. „Dort oben zu sein ist Wahnsinn“, sagte der indische Offizier.
„Die Inder waren dumm, in das Gebiet zu kommen, und wir waren sentimentale Idioten, als wir versuchten, uns die restlichen Gipfel zu schnappen und sie (die indischen Truppen, Anm.) wieder hinauszuwerfen“, zitiert MacDonald aus Notizen von früheren pakistanischen Armeekommandanten aus dem Jahr 1989.
Lawinentote bis heute verschüttet
Die Lawine am 7. April hatte auf einer Höhe von etwa 4.500 Metern ein Armeecamp metertief unter sich begraben. 127 Soldaten und elf zivile Angestellte wurden verschüttet. Nach wochenlanger Suche mit 450 Mann und schwerem Räumgerät wurden die 138 Lawinenopfer Ende Mai für tot erklärt. Erst zu Pfingsten wurden drei Leichen gefunden und geborgen. Die Armee erklärte, so lange weitersuchen zu wollen, „bis die Leichen aller Märtyrer“ geborgen seien.
Gespräche über einen Rückzug beider Seiten stocken allerdings weiterhin, obwohl seit 2005 über einen Grenzverlauf verhandelt wird. Auch die Lawinenkatastrophe werde kaum etwas daran ändern, sagt MacDonald, Autorin des Buches „Heights of Madness“, das sich mit dem Siachen-Konflikt befasst. Indien verlange vor einem Rückzug, dass seine Positionen auf dem Gletscher in pakistanische Karten eingetragen werden.
Pakistan sei der Überzeugung, dass Indien den Konflikt begonnen hat und empfände einen Rückzug unter Bedingungen als „erniedrigend“ und wohl kaum zu akzeptieren. „Das könnte bedeuten, dass der Siachen-Konflikt und mit ihm der breitere Kaschmir-Streit, über weitere Jahre ungelöst bleiben“ und die Soldaten auf dem Gletscher - auch zum Preis weiterer Toter für das Credo keinen Zentimeter dem Feind.
Links: