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„Freiheit bedeutet nicht Anarchie“

Wenige Monate nach dem Sturz und Tod des früheren libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi gibt es einige Versuche, zumindest rund um Tripolis wieder Normalität einkehren zu lassen. Internationale Flughäfen, Geschäfte und Kaffeehäuser öffneten wieder. Die Ölproduktion nimmt sukzessive an Fahrt auf, viele ausländische Ölfirmen, darunter die OMV, kehrten nach Libyen zurück.

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Am 19. Juni sollte gewählt werden - erstmals nach vier Jahrzehnten, möglicherweise werden die Wahlen nun aber um einige Wochen verschoben. Die 200 Mitglieder der neuen Allgemeinen Nationalkonferenz sollen eine neue Regierung benennen und ein Verfassungskomitee bilden. „Libyen nähert sich mit der Wahl einem Schlüsselmoment seines demokratischen Übergangs“, sagte der Leiter der UNO-Mission in Libyen (UNSMIL), Ian Martin.

Als höchstes politisches Gremium gilt derzeit der Übergangsrat unter Führung von Mustafa Abdel Dschalil, der auch die derzeitige Regierung unter Abdel Rahim al-Kib ernannte. Das Kabinett, dominiert von Akademikern und Geschäftsleuten, die in der Ära Gaddafi im Ausland lebten, weist kaum erfahrene Politiker auf. „Freiheit bedeutet nicht Anarchie“, ist ein zentrales Motto der Interimsregierung.

Verherrlichung Gaddafis wird bestraft

Die Verherrlichung Gaddafis, seiner Regierung, Ideen und Söhne wurde unter Strafe gestellt. Gefängnis droht nun auch dann, wenn der libyschen „Revolution vom 17. Februar 2011" Schaden zugefügt oder die muslimische Religion oder die Autorität des Staates (...) herabgewürdigt wird“.

Doch von Stabilität und Sicherheit ist das Land nach wie vor weit entfernt. Trotz Waffenstillstandsverhandlungen mit einer Delegation des Übergangsrats gibt es im Süden und in Zentrallibyen seit Wochen Kämpfe. Berber und Schwarzafrikaner kämpfen gegen arabische Stämme um die Kontrolle von Städten und Außenposten entlang ihrer Schmuggelrouten. Westliche Geheimdienste zeigten sich auch besorgt, dass ohnehin fragile Nachbarstaaten wie Mali und der Niger ebenfalls davon betroffen seien. Denn der Waffenschmuggel verstärkte etwa den Aufstand der Tuareg in Mali.

„Gelernt, Befreiung zu bedauern“

Für einen im Süden lebenden Libyer sind diese Kämpfe noch heftiger als die, die Gaddafis Sturz herbeiführten. Denn damals sei es um die Kontrolle von Militärbasen und Regierungsgebäuden gegangen, bei den Stammeskämpfen werde in Wohngebieten gekämpft, sagte er gegenüber dem „Economist“. Ein anderer geht noch einen Schritt weiter: „Wir haben gelernt, die Befreiung zu bedauern.“

Sicherheitspersonal auf den Straßen Benghasis

Reuters/Esam Al-Fetori

In vielen Regionen akzeptieren frühere Rebellen nicht die Autorität der Regierung

Problematisch ist aber nicht nur der Süden. Herausforderungen bleiben die nationale Armee und das Verteidigungsministerium, das ganze Brigaden registrierte, ohne sie effektiv unter sein Kommando zu bringen. „Die Regierung und die Armee haben nicht die Kapazität, die Wahl zu sichern“, warnt Peter Cole vom Thinktank International Crisis Group. Die Ausbildung erfordert noch Zeit.

Milizen kaum unter Kontrolle der Regierung

Zwar gebe es keinen Hinweis, dass Milizen den Wunsch haben, die Wahl zu behindern, so Cole, allerdings akzeptieren regionale Milizen Beobachtern zufolge die zentrale Regierung Libyens nicht. Erst im März hatten Politiker und Stammesvertreter die Autonomie der Region Cyrenaika im Osten des Landes ausgerufen. Tripolis hat kaum Einfluss in diesen Regionen. Viele Anti-Gaddafi-Milizen, die offiziell in die libysche Armee eingetreten sind, behalten ihre lokalen Loyalitäten bei. Entsprechend groß sind die Spannungen zwischen ihnen und den Soldaten der früheren Gaddafi-Armee, die ihre Jobs behalten haben.

4.000 Gaddafi-Anhänger in Geheimgefängnissen

Die Regierung muss eine Gratwanderung schaffen. Die Rebellen müssen eingebunden, die Gaddafi-Anhänger integriert werden. Laut UNO befinden sich nach wie vor rund 4.000 von ihnen in geheimen Gefängnissen der ehemaligen Rebellen. „Diese Geheimgefängnisse von Milizen sind das größte Problem bei der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit“, sagte Martin. Zudem hat die UNO „glaubhafte Informationen“, dass es Folter gebe.

Entscheidende Schritte sind der Aufbau eines neuen Justizsystems und die Entwaffnung der Milizen. Nicht zuletzt wegen des notwendigen Erfolgserlebnisses will die libysche Regierung Gaddafis Sohn Saif al-Islam selbst den Prozess machen. Die Regierung ersuchte den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, sich bei der strafrechtlichen Auslieferung Saif al-Islams für nicht zuständig zu erklären. Gestritten wird schon seit Monaten, wer für den Gaddafi-Sohn zuständig ist. Bisher ist aber nicht einmal klar, ob die örtlichen Machthaber in Sintan, wo Saif al-Islam im Gefängnis ist, bereit sind, ihn nach Tripolis zu überstellen.

Rebellen fordern Entschädigung

Zugleich gibt es nahezu täglich Proteste von früheren bewaffneten Rebellen, die finanzielle und andere Vergünstigungen fordern als Anerkennung für ihre Rolle beim Sturz Gaddafis. Die weitere Entwicklung Libyens wird davon abhängen, wie die Regierung mit diesen Milizen umgeht, sind Beobachter überzeugt. „Die Regierung wird sich nicht lange halten können, wenn sie sich nachgiebig gegenüber Erpressung zeigt und die Loyalität der Milizen mit hartem Geld erkauft“, warnte der Nahost-Experte Karim Bitar im AFP-Interview.

Die Regierung hatte Millionen an „begünstigte“ ehemalige Rebellen gezahlt, die eigentlich gar kein Recht darauf hatten. Die Entschädigungszahlungen wurden nun vorläufig gestoppt. Mit diesem Programm sollte erreicht werden, dass sich die früheren Rebellen staatlichen Institutionen anschließen und ihre Waffen abgeben. Dem verweigern sich aber viele Milizen. Über 125.000 Libyer sollen noch über Waffen verfügen.

„Nicht Diktat der Gesetzlosen unterwerfen“

Erst vor wenigen Tagen trat die Regierung vehementer gegen die Rebellen auf: „Die libysche Regierung unterwirft sich nicht dem Diktat der Gesetzlosen und sie lässt sich auch mit Waffengewalt nicht in die Knie zwingen.“ Zuvor hatten 200 Bewaffnete, die sich als „Revolutionäre“ bezeichneten, ein Regierungsgebäude in Tripolis umstellt und dort den zuständigen Wachleuten ein Gefecht geliefert - aus Wut darüber, dass sie bei dem Entschädigungsprogramm bisher leer ausgingen.

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