Der lange Schatten des Putsches
„Erlauchte türkische Nation“ - mit diesen Worten begann am 12. September 1980 eine Rundfunk- und Fernsehansprache des damaligen Generalstabschefs General Kenan Evren. Zusammen mit den Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und der Gendarmerie hatte Evren kurz zuvor die zivile Regierung von Ministerpräsident Süleyman Demirel abgesetzt.
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Die Putschisten übernahmen die Macht, setzten die demokratische Verfassung außer Kraft, verfügten ein Parteienverbot und ließen Hunderttausende festnehmen, etliche wurden schwer gefoltert, mehrere hundert Menschen starben.
Signal an heutige Generäle
Trotz der schweren Menschenrechtsverletzungen konnte die Justiz den Putschisten lange Zeit nichts anhaben. Das ändert sich erst jetzt: Mehr als 30 Jahre nach dem Coup begann am Mittwoch in Ankara der Prozess gegen die noch lebenden Mitglieder der damaligen Junta. Angeklagt sind der heute 94-jährige Putschführer von 1980 und spätere türkische Staatspräsident (bis 1989), Kenan Evren, und der 87-jährige Ex-Luftwaffenchef Tahsin Sahinkaya, die anderen drei Mitglieder der Putschriege von 1980 sind tot. Die Anklage ist ein wichtiger Teil der Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren türkischen Geschichte - und sendet ein unübersehbares Signal an die heutige Generation der Generäle.
Grabesruhe in der Türkei
Ausgelöst wurde der 1980er Putsch durch blutige Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen auf den Straßen und die Unfähigkeit des zerstrittenen Parlaments, einen neuen Staatspräsidenten zu wählen. Deshalb wurde der Staatsstreich von vielen Türken zunächst begrüßt - endlich war Ruhe im Land. Doch es war eine Grabesruhe. Nach und nach zeigte sich die dunkle Seite der neuen Machthaber. In den Gefängnissen wurden Inhaftierte schwer gefoltert, die Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt. Insgesamt starben 50 Menschen durch Hinrichtung, rund 300 starben in den Gefängnissen, fast 400 weitere Putschopfer kamen außerhalb der Gefängnismauern ums Leben.
Leben an der sonnigen Küste
Reue zeigt Evren deshalb nicht. „Ich würde es wieder tun“, sagte er bei seiner ersten staatsanwaltschaftlichen Vernehmung im vergangenen Jahr. Lange Zeit hatten sich Evren und seine Mitstreiter keine Sorgen über eine Vorladung durch die Justiz machen müssen. In der 1982 unter Militärherrschaft erlassenen Verfassung verankerten die Generäle eine umfassende Straffreiheit für sich selbst, Evren ließ sich 1982 zum Staatspräsidenten wählen. Nach dem Ende seiner siebenjährigen Amtszeit zog er sich an die sonnige Westküste der Türkei zurück und wurde Freizeitmaler.
Erst eine Volksabstimmung im September 2010 zerstörte die Idylle der Ex-Generäle. Die Türken schafften die Immunität für die Militärs ab und ermöglichten damit die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Ende einer Ära für die Armee
Der Prozess gegen Evren und Sahinkaya wird der Türkei die Gelegenheit geben, sich mit dem 1980 begangenen Unrecht auseinanderzusetzen; auch die Wurzeln des Kurdenkonflikts lassen sich in die Putschzeit zurückverfolgen, als das Gefängnis in der kurdischen Großstadt Diyarbakir zu einem besonders berüchtigten Folterzentrum wurde.
Gleichzeitig markiert der Prozess gegen Ex-Präsident Evren das endgültige Ende jener Ära, in der die türkische Armee nach Belieben schalten und walten konnte und sich vor niemandem im Staat verantworten musste. Dass ein Mann wie Evren eines Tages vor einem Richter stehen könnte, war noch vor wenigen Jahren eine unrealistisch erscheinende Vorstellung. Nun könnte es Verfahren auch gegen die Drahtzieher der als „post-modernen Putsch“ bekannten Intervention von 1997 geben, als der damalige islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan auf Betreiben der Generäle aus dem Amt gedrängt wurde.
Susanne Güsten, APA
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