„Tragödie plus Zeit macht Tourismus“
Für Nordirlands krisengeplagte Hauptstadt Belfast hat die „Titanic“ vor 100 Jahren vor allem eines bedeutet: dringend nötige Jobs. 36.000 Menschen arbeiteten damals bei Harland & Wolff, wo das Schiff gebaut wurde. Heute soll es wieder wirtschaftliche Impulse bringen - mit der „Titanic Experience“, einer Mischung aus Museum und Katastrophen-Vergnügungspark.
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„Titanic“-Museen, „Erlebniswelten“ und heuer noch dazu reihenweise Ausstellungen gibt es rund um die Welt. Die neue Attraktion in Belfast, wo das Schiff gebaut wurde, kann sich aber rühmen, an Größe und technischem Aufwand alles andere auszubooten. Die Kosten liegen bei rund 120 Millionen Euro, finanziert aus öffentlichen und privaten Mitteln. Mit einer Bauzeit von drei Jahren, davon zehn Monate für den Innenausbau, entspricht die Projektdauer ziemlich genau jener der „Titanic“ selbst.
Virtuelle Hochschaubahn, Werftduft inklusive
Das Ausstellungsgebäude entstand auf dem alten Werftgelände, wo heute nur noch etwa 500 Leute vor allem mit Schiffsreparaturen und Turbinenbau beschäftigt sind, und erzählt die Geschichte der „Titanic“ vom Bau bis zum Untergang. Auf sechs Stockwerken - mit gleicher Höhe wie das Schiff - wird die Geschichte des Dampfers dabei mit einiger Effekthascherei erzählt. Die setzt sich auch in der Architektur fort: Die Ausläufer des sternförmigen Gebäudes sollen an die Bugform der „Titanic“ erinnern.

AP/Peter Morrison
„Titanic Belfast“ vor der Eröffnung
Innen gibt es 1:1-Nachbauten von Dritte-Klasse-Kabinen, Zweite-Klasse-Kabinen, Erste-Klasse-Suiten, dem Bankettsaal und noch anderen Räumen und Details wie dem Schiffsruder und Rettungsbooten. Vor allem aber gibt es Multimedia bis zum Abwinken: von einzelnen Biografien von Crew und Passagieren über eine simulierte Hochschaubahnfahrt durch das computergenerierte Schiff bis zum Untergang, der in einem abgedunkelten und extra gekühlten Raum nachvollziehbar gemacht werden soll. Sogar „Geruchseinspielungen“ gibt es, etwa die Duftnote „Schiffswerft“.
Dem Untergang geweihte Hochzeiten möglich
Eine ozeanologische Abteilung, für die Robert Ballard, der Entdecker des „Titanic“-Wracks, die Patenschaft übernommen hat, soll die Attraktionen mit ein wenig Seriosität ausbalancieren. Dass es bei „Titanic Belfast“ vor allem um ein Katastrophenspektakel geht, wird aber nicht verhehlt. Angeboten werden etwa auch Trauungen und Firmenfeiern mit romantischem Schauer-Appeal; oder, wie es der Belfaster „Titanic“-Experte Colin Cobb gegenüber der Nachrichtenagentur AP nüchtern formulierte: „Tragödie plus Zeit macht Tourismus.“
Für Cobb, der in der nordirischen Krisenstadt mit geführten „Titanic-Spaziergängen“ seinen Lebensunterhalt bestreitet, ist der Grund für die anhaltende Faszination von der Schiffskatastrophe klar: „So was kann man sich nicht ausdenken. Da hast du das größte Schiff der Welt. Es ist angeblich unsinkbar, es hat einen Querschnitt von jedem in der Gesellschaft an Bord. Und dann - der größte Patzer der Geschichte - rammt sie einen Eisberg. Es ist alles drin. Alle Zutaten sind drin.“

AP/Peter Morrison
Einer der Ausstellungsräume
„Das ist unser Eiffelturm, unser Guggenheim“
Auch die Macher von „Titanic Belfast“ verhehlen nicht, dass sie Voyeure der gut abgelegenen Katastrophe anziehen wollen und deshalb die eingefahrenen Klischees bedienen. In Anspielung auf den „Titanic“-Hollywood-Schmachtfetzen mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio in den Hauptrollen bedauert etwa die Belfaster Marketing-Verantwortliche Claire Bradshaw: „Wenn nur im Film einmal Belfast vorgekommen wäre; das würde meinen Job um einiges leichter machen.“
Korrigieren will die Attraktion den Mythos nur in einer Hinsicht: „Was der ‚Titanic‘ passierte, war eine Katastrophe. Aber das Schiff war keine“, so Geschäftsführer Tim Husbands. Nach 100 Jahren Schweigen entdecke man nun „den Stolz auf das Schiff wieder“, sagt Susie Millar, Urenkelin eines beim Unglück umgekommenen Bordingenieurs. Bradshaw hoffte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP gar auf „eine neue Ära: Das ist unser Eiffelturm, unser Guggenheim, es ist unsere Chance, den Blick der Welt auf unsere Stadt vollkommen zu verändern“, sagt Bradshaw.
425.000 Besucher erwartet
Die Rechnung scheint jedenfalls aufzugehen: Trotz eines Eintrittspreises von umgerechnet 16,25 Euro waren schon vor der Eröffnung am 31. März Zehntausende Tickets vorab verkauft. Im ersten Jahr erhoffen sich die Verantwortlichen 425.000 Besucher. Cobb wäre es trotzdem lieber, wenn sich die Besucher von Belfast nicht nur auf die Titanic konzentrieren würden, sondern auch an die vielen anderen in Belfast gebauten Schiffe erinnern würden, etwa das ältere Schwesterschiff der „Titanic“, die „Olympic“.
Vergesst die „Titanic“, feiert die „Olympic“
Die „Olympic“ stand von 1911 bis 1935, unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg, zuverlässig im Passagierdienst. Legendär wurde das nicht umsonst mit dem Spitznamen „Old Reliable“ („Die alte Zuverlässige“) versehene Schiff vor allem während der Kriegsjahre als Truppentransporter. Die „Olympic“ rettete etwa 1914 die gesamte Besatzung des sinkenden britischen Schlachtschiffs „Audacious“ und musste dafür ein Seeminenfeld durchqueren, was ihr unbeschadet gelang.
1918 konnte Kapitän Bertram Hayes in einem waghalsigen Manöver ein deutsches U-Boot abwehren, indem er frontal darauf zusteuerte und es mit der Schiffsschraube leckschlagen konnte. Bis heute ist die „Olympic“ damit das einzige unbewaffnete Schiff, das ein Seegefecht gewann. Cobbs Schlussfolgerung: „An die ‚Titanic‘ erinnert man sich, aber die ‚Olympic‘ sollte gefeiert werden. Aber sie war ein Erfolg, und wir neigen dazu, uns nicht an erfolgreiche Dinge zu erinnern.“
Lukas Zimmer, ORF.at
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