„Alle ‚Titanic‘-Passagiere in Sicherheit“
Kaum jemand weiß noch, dass vor 25 Jahren beim Untergang der „Dona Paz“ auf den Philippinen über 4.300 Menschen ums Leben kamen. Dass aber vor inzwischen 100 Jahren die „RMS Titanic“ nach einer Kollision mit einem Eisberg sank und dabei 1.513 Menschen ums Leben kamen, ist tief im kollektiven Gedächtnis verhaftet - dank eines von Anfang an aufgebauten medialen Mythos.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
James Cameron, Regisseur des „Titanic“-Blockbusters, begründete die Dauerhaftigkeit des Mythos mit der Erklärung, das Schiffsunglück sei „irgendwie ein großartiger metaphorischer Roman, der tatsächlich passiert ist“. Dass das Unglück in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 nach wie vor so präsent ist, geht jedoch nicht so sehr auf das Unglück selbst als vielmehr auf die Berichterstattung darüber zurück, die schon von Anfang an „Fakten“ erfand und „Unpassendes“ unter den Tisch fallen ließ.
Eine schmale Depesche und was daraus wurde
Der Untergang der „Titanic“ war das erste Unglück in einem damals neuen Medienzeitalter. Kurz zuvor hatte die drahtlose Telegrafie neue Verhältnisse im Wettstreit der Zeitungsredaktionen geschaffen: Von nun an hatten alle denselben Zugang zu denselben Informationen. Somit sollte von nun an bei „Breaking News“ vor allem zählen, wer dieselbe „Geschichte“ besser erzählt und vor allem schneller auf der Straße beim Leser hatte.

CORBIS/Bettmann
Das Titelblatt der „New York Times“ vom 16. April 1916
Bei der „Titanic“ hatten am Anfang alle nur dasselbe, nämlich eine schmale Depesche der US-Nachrichtenagentur AP mit dem Text: "Um 22.25 Uhr heute Abend hat das White-Star-Dampfschiff „Titanic“ „C.Q.D." (das damals noch übliche Notfunksignal, Anm.) an die hiesige Marconi-Telegrafenstation gefunkt und von einem Zusammenstoß mit einem Eisberg berichtet. Das Dampfschiff ließ wissen, dass sofortige Hilfe vonnöten ist.“ Das war zu wenig für einen Bericht.
„Alle ‚Titanic‘-Passagiere in Sicherheit“
Den Rest, der auf einen erzählbaren Bericht fehlte, erfanden viele Zeitungen einfach dazu. Dass etwa der „Christian Science Monitor“ am 15. April 1912 die Schlagzeile brachte: „Passagiere evakuiert, Dampfer ‚Titanic‘ im Schlepptau“ und im Bericht noch „Schotten halten dicht“ dazudichtete und das kanadische Halifax als Ziel des „abgeschleppten“ Dampfschiffs nannte, ist heute eine der legendärsten Blamagen der Mediengeschichte. Auch die „Evening Sun“ titelte: „Alle ‚Titanic‘-Passagiere in Sicherheit; in Rettungsboote auf offener See gebracht.“
Andere Schwindeleien von damals sind bis heute kaum entlarvt, etwa die Mär, dass der Eisberg den Rumpf der „Titanic“ über Dutzende Meter Länge aufschlitzte - allein schon durch die Gegenüberstellung der spezifischen Dichte von Eis und der spezifischen Dichte von Stahl eine physikalische Unmöglichkeit. Die Legende vom aufgeschlitzten Schiff war nichts anderes als die Erfindung eines Zeitungsgraphikers am Tag nach dem Unglück - offenbar nach der Devise: Wenn ein so großes Schiff untergeht, muss auch das Leck groß gewesen sein.

AP
Die „Titanic“, fünf Tage vor dem Unglück bei der Ausfahrt aus Southampton
„Bessere“ statt wahrer Geschichten
Die offizielle Untersuchung des Unglücks noch im Jahr 1912 errechnete anhand der Dauer des Sinkens des Schiffes eine mutmaßliche Gesamtgröße des Lecks von 1,2 Quadratmetern. Erstmalige Untersuchungen am Wrack selbst im Jahr 1996 ergaben: Das Schiff krachte in einem missglückten Ausweichmanöver sechsmal gegen den Eisberg, wodurch die Nietstellen zwischen den einzelnen Stahlplatten im Schiffsrumpf aufgedrückt wurden. Die Gesamtgröße aller sechs Lecks beträgt inzwischen nachgemessene 1,18 Quadratmeter.
Der Unglückshergang ist nur eines von vielen Beispielen für Erfindungen oder Halbwahrheiten im Dienste einer „besseren“ Geschichte, etwa beim sozialen Aspekt: So zeigt etwa die Opferbilanz einen viel höheren Anteil an Zweite-Klasse-Passagieren als an Dritte-Klasse-Passagieren. Die Legenden um den Hochmut von Kapitän und Schiffseigner, die für einen Temporekord das Leben ihrer Passagiere aufs Spiel setzten, stimmt ebenso wenig - und geht noch dazu zu einem Gutteil auf den Nazi-Propagandastreifen „Titanic“ aus dem Jahr 1943 zurück.
Legenden und Lügen
Das „Blaue Band“ für die schnellste Atlantiküberquerung, um das die Schiffscrew angeblich ritterte, hätte die „Titanic“ allein aufgrund ihrer Bauart niemals einfahren können. Eisbergwarnungen wurden auch nicht ignoriert, sondern im Gegenteil deshalb der Kurs des Schiffs geändert. Tatsache ist allerdings, dass die Sicherheitsvorkehrungen mangelhaft waren - aber nur aus heutiger Sicht. Die gültigen Normen des Jahres 1912 wurden bei der „Titanic“ bei weitem übererfüllt, etwa im Hinblick auf die Anzahl der Rettungsboote.

AP
Überlebende in Rettungsbooten
Auch dass die Eigentümer das Schiff als „unsinkbar“ angepriesen hätten und der Untergang damit nachgerade „bestrafter Hochmut“ sei, stimmt nicht. Bereits in Fachpublikationen des Jahres 1912 war diese Lüge widerlegt. Die Schiffseigentümer hatten niemals die Unsinkbarkeit der „Titanic“ versprochen. Ebenso wenig lassen sich Legenden über krasse Fehlentscheidungen auf der Brücke nach der Sichtung des Eisbergs belegen. Nach Meinung von Experten hätte es zwar eine Chance gegeben, das Schiff zu retten - aber nur, wenn die Brücke Anweisung gegeben hätte, den Eisberg frontal zu rammen.
Lehren aus dem Unglück
Unter den Tisch fallen gelassen wird bis heute umgekehrt, dass die Welt aus der Katastrophe gelernt hat: Gerade die verantwortliche White-Star-Linie schickte ihre Schiffe nach der Katastrophe umgehend zur Verstärkung der Außenhaut in die Docks. Um die Beobachtung von Eisbergen kümmert sich seit 1914 die internationale Eispatrouille. Vor allem aber wurden weltweit die Sicherheitsanforderungen - etwa im Hinblick auf die Zahl nötiger Rettungsboote und die Kommunikationsstandards auf See - der Realität angepasst.
Beachtet werden die Standards aber vor allem in der westlichen Welt. Die „Dona Paz“ sank 1987, weil sie mit einem Tanker kollidierte, der danach explodierte. Die Fähre beförderte dreimal mehr Menschen als zulässig und hatte keinen aufrechten Funkverkehr, die Crew war zum Unglückszeitpunkt nicht auf der Brücke. Der Tanker hatte keine Zulassung. Die Kästen mit den Schwimmwesten waren verschlossen. Die Rettungsboote konnten nicht zu Wasser gelassen werden, weil die ganze See nach der Explosion in Flammen stand. Nur 26 Menschen überlebten.
Lukas Zimmer, ORF.at
Links: