200 Franken für die Nähe zur Schwester
Mit ihrem zweiten Spielfilm “L’enfant d’en haut“ (“Das Kind von oben“) hat die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier einen klugen, sehenswerten Film gemacht, der vollkommen auf der Höhe der Zeit ist. Alles ist käuflich - diese Weltsicht hat schon der zwölfjährige Simon und versucht so, die Zerrüttung in seiner Familie aufzuhalten.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Simon kennt die besten Marken – bei Ski, Sonnenbrillen, Handschuhen, Helmen. Und für die gut betuchten Touristen in dem namenlosen Skiresort irgendwo in den Schweizer Alpen ist das Beste gerade gut genug. Also hat der zwölfjährige Bub (Kacey Mottet Klein) auch nicht die geringsten Skrupel, als er das am Lift und vor dem Restaurant vertrauensvoll abgestellte Edelequipment stiehlt und weiterverkauft. Die kaufen sich das doch einfach noch einmal, sagt er.

Berlinale
Normale Beziehungen sind Simon (Kacey Mottet Klein) völlig fremd
Die Welt der Anderen
Skimaske und Helm auf dem Kopf, räumt Simon seelenruhig ab, unerkannt, wie ein Phantom aus dem Tal, das täglich die Seilbahn zur Skistation nimmt – als Einziger in der Gondel. “Die Leute im Tal, in den Industriegebieten fahren nie dahin, obwohl es nur zwei Minuten dauern würde, sie sind auch gar nicht neugierig drauf. Das ist eine Welt, die nicht für sie bestimmt ist“, so Meier im Gespräch mit ORF.at.
Dass ihn jemand beim Stehlen stören könnte, damit scheint er gar nicht zu rechnen. Simon braucht das Geld – vor allem für seine arbeitslose große Schwester Louise (Lea Seydoux), die er aushält. Gleichsam ein sehr junger Zuhälter, der die Mechanismen des Kapitalismus schon aufs Beste verinnerlicht hat. Manchmal haben Simon und Louise, die in einem unwirtlichen Hochhaus im von Verkehrsadern und Industriebauten zerschnittenen Tal wohnen, nicht einmal Geld, um den Kühlschrank zu füllen.
Den sozialkritischen Film hinter sich lassen
So etwas kann es doch in der Schweiz gar nicht geben, das ist doch unglaubwürdig. Kritik wie diese hört Meier immer wieder, wenn sie von “L’enfant d’en haut“ spricht. Es stört sie nicht: Kino, das bedeute für sie Fantasie, sagt Meier. Sie habe alles getan, um das Genre sozialkritischer Films hinter sich zu lassen. Daher tauchten auch keine Polizisten und kein Sozialarbeiter auf.
Der 41-jährigen Meier ist das Kunststück gelungen, einen Film zu machen, der ganz auf der Höhe der Zeit ist und es gleichzeitig wagt, die naturalistische Ebene zu verlassen. In “L’enfant d’en haut“ geht es um die Ökonomisierung der menschlichen Verhältnisse, um gestörte familiäre Bindungen. In Simon, der sich am liebsten als abgebrühter Hehler geriert, nagt die Einsamkeit.
Er leidet daran, dass seine Schwester nie da ist, immer an die falschen Männer gerät und am liebsten mit dem Bruder gar nichts zu tun haben will - außer, wenn sie Geld braucht. “Ein Film, der mir wirklich Lust gemacht hat, selbst Filme zu machen, war ‚Das Geld‘ von Robert Bresson“, sagt die Regisseurin: “Auch Simon denkt ja, alles ist käuflich, Zuneigung, ein sozialer Status, sogar familiäre Nähe. Er kauft sich die Illusion eines anderen Lebens.“
Provokation gegenüber der Schweiz
In kühl komponierten Bildern (Kamera: Agnes Godard) kontrastiert der Film die abgeschlossene Welt des Skiresorts mit der ebenso isolierten Welt von Simon und Louise in ihrem gesichtslosen Apartment. Nichts weist darauf hin, dass “L’enfant d’en haut“ in der Schweiz spielt. Die Schauplätze wirken betont austauschbar.
Dennoch sei es wichtig gewesen, dass der Film in der Schweiz spielt, sagt Meier im Gespräch lachend, auch wenn sie sich nicht sicher sei, ob die Schweizer ihn mögen werden. “Das Image der Schweiz – der starke Franken, die kleine Insel mitten in Europa und auch der Schweizer Film selbst, der sehr stark Heimatfilm ist und eine Art Rückkehr zu den sicheren Werten propagiert - das macht mir sehr viel Angst. Der Film ist eine kleine Provokation, daher mein Wunsch, dass er in der Schweiz spielt, obwohl er natürlich viel universeller ist“, sagt die Regisseurin, übrigens heuer die einzige Frau unter den Bären-Anwärtern.
Keine unnötigen Worte
Nüchtern und ohne eine Dialogzeile zu viel zeigt der Film die immer mehr zur Besessenheit werdenden Diebstähle Simons und seines florierenden Business. Doch Simons existentiellen Bedürfnisse nach Nähe, ruhiger Ansprache oder einfach einem warmen Essen werden von der Schwester, die selbst unter einem zwischen den beiden schwelenden Beziehungskonflikt leidet, immer mehr missachtet. In einer der vielen starken Szenen des Films erbettelt sich Simon, wenigstens einmal bei Louise im Bett schlafen zu dürfen. 150, 180 bietet er ihr ganz ernsthaft für diesen Gefälligkeit an. Louise überlegt kurz: 200 Franken, sagt sie dann nur.
Es ist der meisterlichen Inszenierungskraft Meiers und ihren grandiosen Darstellern zu verdanken, dass diese Überhöhung den Zuschauer nicht zum Lachen oder zum Abwinken bringt. Sondern zum Schlucken.
Alexander Musik, ORF.at
Links: