Als die Stille hörbar wurde
Für die Musik ist das Ende im Jahr 1951 gekommen, als John Cage es mit seinem Stück „4'33“ gewagt hat, vollkommene Leere anzubieten. Ein Pianist betritt die Bühne, öffnet den Klavierdeckel und schließt ihn nach vier Minuten und 33 Sekunden wieder, ohne einen einzigen Ton angeschlagen zu haben. „Gespielt“ werden kann dieses stumme Konzert in drei Sätzen auch von großem Orchester oder sonstiger beliebiger instrumentaler Besetzung.
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„Die Möglichkeit von Musik selber ist ungewiss geworden. Nicht, dass sie dekadent, individualistisch oder asozial wäre, wie die Reaktion ihr vorwirft, gefährdet sie. Sie ist es nur zu wenig“, schrieb Theodor W. Adorno in der „Philosophie der Neuen Musik“. Mit Cage fand die Musik erstmals einen Vertreter, der zu ihrem Menetekel wurde und ihr zugleich ungeahnte Möglichkeiten eröffnete. Ihr vermeintliches Ende erwies sich als umso radikalere Wende.
Seinem Geburtsdatum am 5. September 1912 nach gehörte Cage zur Generation von Oliver Messiaen, Dimitri Schostakowitsch und Louis Armstrong. Dementsprechend waren einst auch Cages erste Kompositionen „aufgezeichnete Musik“, verdankten sich Einfällen und ihrer Elaboration, lebten von Melodik, Harmonik, Rhythmik und Instrumentation.
„Jedes neue Stück wie eine Entdeckung“
Zwar hatte sich die Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits von der traditionellen Musiksprache formal wie inhaltlich emanzipiert, doch selbst in ihrer atonalen Variante eines Arnold Schönberg und der Wiener Schule blieb sie auf die Vergangenheit gerichtet, quasi als Kontrapunkt zur tonalen Musik. So hatte sich Schönberg, dessen Schüler Cage war, immer für einen Traditionalisten gehalten.

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„Wenn ich singe, kann ich kaum die Melodie halten“
Cage hingegen sah nach vorn, er wollte ein Erfinder und Entdecker sein: „Mein Vater war Erfinder. Wenn ich es kann, dann erlebe ich mit jedem neuen Stück so etwas wie eine Entdeckung“, gab Cage als Motto vor. Um in neue musikalische Welten vorzustoßen, musste er zunächst alles Tradierte abschütteln und alles Gängige, Erprobte und Anerkannte rigoros ausmerzen.
Präparierte Instrumente und neue Spielarten
Eines der Mittel war, den gewohnten Klang von Instrumenten zu verfremden. 1939 komponierte Cage mit „Bacchanale“ das erste Stück für Präpariertes Klavier – ein Terminus, den Cage selber einführte. Dafür klemmte er Schrauben, Wäscheklammern, Radiergummis, Essbestecke und Münzen zwischen die Saiten, die das Klavier klappern und scheppern ließen.
Die Töne und Harmonien traten zurück - analog einem Schlagzeug mit Tasten -, und ein völlig neuer Klavierklang entstand, der damals Bestürzung und Empörung auslöste, ohne dass freilich bedacht wurde, dass die gebräuchlichen und akzeptierten Dämpfer auf Streich- und Blasinstrumenten ebenfalls „Präparationen“ sind.
Präparierte Instrumente jeglicher Art wurden zu Cages Steckenpferd, für das er vor allem ab den 1940er Jahren komponierte. Dabei pflegte er stets, die Präparationen exakt und verbindlich zu definieren. Das galt auch für die Spielarten: Blasinstrumente mussten während des Spiels auseinandergenommen, Violinen mit dem Bogen der Länge nach statt quer gestrichen, Klaviere bis zu deren Zerstörung mit Hämmern und Schlägeln traktiert werden.
Die Zertrümmerung des „obligaten Stils“
Was Cage mit den Instrumenten veranstaltete, proklamierte die Zertrümmerung des „obligaten Stils“, dessen Ausbildung die abendländische Musik letztlich ihre Verbindlichkeit verdankte. Aber schon früh war die Musikgeschichte von Rebellionen gezeichnet: So weigerte sich etwa die Hofkapelle in Ferrara energisch dagegen, als Claudio Monteverdi das Tremolo einführen wollte.
Cage ging aber noch einen Schritt weiter und experimentierte mit neuen schallerzeugenden Mitteln. 1939 entstand „The Imaginary Landscape No. 1“, eine Schallplattenmontage, die als eine der ersten elektronischen Kompositionen gilt. Dank abrupten Aufsetzens und Abhebens der Nadel, schnelleren und langsameren Abspielens vorhandener musikalischer Versatzstücke auf Tonträger, kann sie zugleich auch als Demütigung aufgefasst werden, die eine Musik einer anderen antun kann.
„Sie brauchen es nicht für Musik halten"
Später traten Geräusche hinzu, etwa Wasserplanschen, Pfiffe und das Geräusch eines hingestreuten Kartenspiels in Cages „Water Music“ aus dem Jahr 1952 und Küchengeräte in dem 1962 komponierten Stück „0'0“. Cage wollte die Unterscheidung zwischen Ton und Geräusch nicht länger gelten lassen.
Er verstand sich nicht als „Tonkünstler“, sondern begriff alles als Musik, was sich innerhalb eines bestimmten Zeitraums hören lässt. „4'33“ erwies sich damit nicht nur als guter Witz in der Musikgeschichte, sondern als letzte Konsequenz. Das Stück lädt auch dazu ein, auf jegliche im Raum oder außerhalb verursachten Geräusche zu hören, ganz so als wollte es Schönbergs Satz „Möge ihnen diese Stille klingen“ beschwören. „Sie brauchen es nicht für Musik halten, wenn dieser Ausdruck Sie verletzt", kommentierte Cage.
Zufall und Musiker als Mitschöpfer
Doch Cage schaltete nicht nur den Ton aus, sondern wollte auch sich selbst als komponierendes Subjekt verschwinden lassen. Zunehmend machte er in den 60er und 70er Jahren den Zufall zum Komponisten. Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe und Dauer ermittelte er nun aufwendig mittels Würfeln oder durch Werfen von Stäbchen, zog das Orakel des „I Ging“ heran, nahm Sternenkarten, Holzmaserungen und Lamellen von Pilzen als Vorbild oder malte einfach Punkte auf Unebenheiten des Notenpapiers, die er dann völlig frei mit Linien verband.
Das Resultat waren nicht nur fantasievolle grafische Arbeiten, die man sich an die Wand hängen kann, sondern Kompositionen, die der Urheber nicht mehr voraussehen konnte und die ausführende Musiker zwangen, viel stärker als bisher zum Mitschöpfer zu werden.
Dirigent nur noch eine Stoppuhr
Cages „Concert for Piano and Orchestra“ aus den Jahren 1958/59 war das erste Stück, das jegliches geregelte Zusammenspiel negiert. Das Werk ist in voneinander unabhängigen Einzelstimmen niedergelegt und in beliebiger Zusammensetzung, beliebiger Reihenfolge und beliebigem Ausmaß vortragbar. Der Dirigent wird zum Stoppuhrenhalter für Anfang und Ende des Stückes degradiert.
Ausdrücklich gehört es zur Konzeption, dass jede Stimme auch ganz wegfallen kann, gegebenenfalls auch alle, so dass auch die Nichtaufführung als eine der möglichen Interpretationen möglich ist. Jede Stimme ist als Solostimme spielbar, fällt hingegen das Klavier weg, verwandelt sich das „Concert“ in eine Symphonie. Zudem lässt es sich mit anderen Stücken Cages simultan aufführen. Schon Wolfgang Amadeus Mozart erlaubte übrigens ausdrücklich, seine Klavierkonzerte auch „a quattro“, das heißt als Quintette, aufzuführen.
Aktion als antitraditionalistisches Extrem
Schließlich schaffte Cage auch die letzte Bestimmung seiner Werke ab, verzichtete auf jegliche Notation und gab den Musikern nur noch rudimentäre Handlungsanleitungen. Diese Nichtfestlegung auf die Spitze treiben etwa die „Variations I-IV“ aus den Jahren 1958 bis 1963 „für eine Person oder eine beliebige Anzahl von Leuten, die jede beliebige Aktion ausführen“. Das einzige Prinzip, dem diese Musik noch gehorcht, ist die Verweigerung jedes Prinzips.
Es gibt kein Kriterium des Verlaufs der Komposition mehr, Töne, Geräusche und Pausen finden ihre individuellen Bestimmungen nur noch im jeweiligen Augenblick ihres Entstehens. Cage verwandelte das musikalische Kunstwerk aus einem reproduzierbaren Objekt in einen zuvor nicht bekannten performativen Akt und damit zum je singulären Ereignis. Musik sollte nichts mehr aussagen, sondern nur noch sie selbst sein.
Sinnlosigkeit ohne Unsinn
Gegen Cages Werke wurde das Vorurteil geäußert, in solcher Musik kämen die Töne wahllos zusammen, Musiker könnten tun und lassen, was ihnen gerade passe, niemand könne in dieser Kakophonie noch unterscheiden, was richtig oder falsch sei. In der Tat sprengte Cages Musik eine gesellschaftliche Barriere, denn dergleichen konnte nun jeder komponieren, ausführen und spielen. „Es gibt Leute, welche sagen: ‚Wenn es so leicht ist, Musik zu schreiben, dann könnt‘ ich’s auch.‘ Freilich können sie’s, aber sie tun’s nicht“, sagte Cage.
Buchhinweise
- John Cage: Silence. Suhrkamp, 160 Seiten, 12,80 Euro.
- Heinz-Klaus Metzger: Die freigelassene Musik. Klever, 218 Seiten, 19,90 Euro.
Die Frage, ob gute oder schlechte Musik dabei herauskommt, hat bei Cage ihre Bedeutung verloren. Seine Musik behauptet die vollkommene Befreiung von der zwanghaften Vorstellung, dass alles einen Sinn hat, und so bleibt einzig ihr Wahrheits- bzw. Unwahrheitsgehalt. „Kunst ist die Magie, befreit von der Lüge, wahr zu sein“, schrieb Adorno in seinen „Minima Moralia“. So gesehen misst sich Cages Rang in der Musikgeschichte nicht an dem, was er geschaffen, sondern an dem, was er abgeschafft hat.
Armin Sattler, ORF.at
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