Alarmierende „Fieberkurve“
Wegen der fortschreitenden Zerstörung ihrer natürlichen Lebensräume stehen immer mehr Wildtierarten auf der Roten Liste. Binnen eines Jahres erhöhte sich die Zahl laut einer aktuellen Bilanz um gut 300 auf 3.879 Arten. Diese „Fieberkurve“ zeige, dass es dem „Patienten“ Artenvielfalt immer schlechter gehe, heißt es.
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Einige Biologen vertreten mittlerweile den - durchaus strittigen - Standpunkt, dass es für Panda, Tiger und Co. de facto schon zu spät ist. Mit der neuesten Bestandsaufnahme hat die Naturschutzorganisation International Union for Conservation of Nature (IUCN) mit insgesamt 61.900 Arten so viele erfasst wie nie zuvor. Damit würde die Liste immer mehr zu einem umfassenden „Barometer des Lebens“, hieß es einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht.

ORF.at/Sophia Felbermair
In Südostasien gelten Orang Utans laut IUCN als „stark gefährdet“ („endangered“) bzw. als „vom Aussterben bedroht“ („critically endangered“)
Laut Roter Liste sind 25 Prozent der Säugetierarten gefährdet, stark gefährdet oder bereits vom Aussterben bedroht. Konkret gelten 5.689 Arten als „stark gefährdet“, 10.002 als „gefährdet“. Zwei afrikanische Nashornarten werden in der neuen Bestandsaufnahme als offiziell für ausgestorben bzw. möglicherweise ausgestorben geführt. Alarmierend ist die Situation laut der Naturschutzorganisation auch bei unterschiedlichen Reptilienarten. In Madagaskar sind Dutzende Arten akut bedroht. Ähnlich sieht es bei bestimmten Fischarten wie dem Thunfisch und Amphibien wie tropischen Fröschen aus.
„Wissen, dass Schutz funktioniert“
„Dieses Update zeigt beides, gute und schlechte Nachrichten zum Status vieler Arten weltweit“, sagte die Direktorin des Globalen Artenschutzprogrammes der IUCN, Jane Smart. Die gute Nachricht sei, dass sich Bestände einiger beinahe ausgestorbener Unterarten etwa ebenfalls bei Nashörnern oder Wildpferden wie dem Przewalski-Pferd, wieder etwas erholt hätten.
„Wir wissen, dass Artenschutz funktioniert“, aber „ohne starken politischen Willen, klare Ziele vor Augen und ausreichende Ressourcen“ könnten die Wunder der Natur bald für immer verloren sein, so Smart. „Menschen sind die Hüter der Welt, und wir sind dafür verantwortlich, die Arten, mit denen wir unsere Umwelt teilen, zu schützen“, sagte Simon Stuart, Direktor der Species Survival Commission des IUCN.
„Es geht immer mehr Arten an den Kragen“
„Diese Erfolge zeigen, dass sich der Aufwand lohnt und in der Wildnis ausgestorbene oder stark bedrohte Tierarten gerettet werden können“, hieß es ähnlich in einer Stellungnahme des WWF Deutschland, der die Liste allerdings mit einer alarmierenden „Fieberkurve“ verglich. „Es gelingt nicht einmal, den Artenschwund zu verlangsamen. Ganz im Gegenteil geht es immer mehr Arten an den Kragen.“

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Vom Borneo-Zwergelefanten gibt es laut WWF nur noch rund 1.500 Exemplare
Neben Tieren sind weltweit auch unzählige Pflanzenarten gefährdet. Hauptsächliche Ursache sind Bevölkerungswachstum und Rodungen. Die Liste erfasst de facto nur einen Bruchteil von insgesamt Hunderttausenden vermuteten Arten weltweit. Pflanzen, laut IUCN-Report ein zentraler und „kritischer“ Bestandteil der Lebensräume von Mensch und Tier, sind bisher in den Listen „deutlich unterrepräsentiert“, aber nicht minder in ihrer Vielfalt gefährdet. Von rund 380.000 bekannten und beschriebenen Arten stünden Jahr für Jahr 2.000 mehr auf der Liste der IUCN.
Immer mehr pessimistische Stimmen
„Für mich ist es vollkommen klar, dass die Gesellschaft fähig ist, das Artensterben zu stoppen“, so Jonathan Baillie, Direktor des Artenschutzprogramms des ZLS London Zoos anlässlich des IUCN-Berichts. „Es müssen sich nur unsere Werte entsprechend ändern.“ Andere britische Biologen sind da deutlich pessimistischer. Sie fragten sich, ob man nicht den Fokus von „den weltweit berühmtesten Arten wie dem Panda“ etwas weg auf Tiere verlagern sollte, die längerfristig „eine größere Chance“ hätten zu überleben, hieß es am Mittwoch im britischen „Independent“.
Kontroversielle Debatte: Wie Prioritäten setzen?
Eine Umfrage unter fast 600 Wissenschaftlern, die sich mit Artenschutz befassen, habe ergeben, dass die Mehrheit von ihnen diesem Ansatz etwas abgewinnen könne. Einige Arten könnten, wenn, dann nur noch mit sehr viel Aufwand gerettet werden. Der laut der Zeitung „höchst kontroversielle“ Ansatz auf den Punkt gebracht: Mit dem Aufwand, mit dem man einige wenige bekannte Arten zu schützen versucht, könnte man unzählige andere vor dem Aussterben bewahren.
Lebten im Jahr 1900 allein in Indien rund 100.000 Tiger, sind laut „Independent“ heute weltweit noch zwischen 3.000 und knapp über 5.000 Exemplare übrig. In Indien setze vor allem das rasante Bevölkerungswachstum und damit die Zerstörung natürlicher Habitate, aber auch Wilderei für volksmedizinische „Wundermittel“ den Beständen immer stärker zu.
Tiger, Eisbär und Panda so gut wie verloren?
Der Eisbär steht mit maximal noch 25.000 Exemplaren ebenfalls ganz oben auf der Roten Liste der bedrohten Arten. Mit dem Abschmelzen des Polareises könnte sich die Zahl in den kommenden 40 Jahren um ein Drittel reduzieren. Die Zahl der Pandabären in freier Wildbahn beträgt derzeit überhaupt nur noch rund 2.500 Tiere.
Doch daran, auf Schutzprogramme für Tiger, Panda und Co. zu verzichten, denkt wohl derzeit niemand ernsthaft. So zeigt das Ergebnis der Umfrage unter den 583 Experten vor allem eines: Sie sehen für einige Arten de facto schwarz. Die Mehrheit meint, dass „ein ernsthafter Verlust“ der Artenvielfalt „wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich oder fast sicher“ sei.
Nüchterner Standpunkt der Wissenschaft
Viele Experten wiesen einen solchen Ansatz, Arten gegeneinander abzuwiegen, als unmöglich oder sogar unmoralisch zurück. Doch laut dem Leiter der Studie, dem Umweltökonomen Murray Rudd von der britischen Universität York, geht es den Wissenschaftlern dabei nicht um Wertungsfragen.
Kulturspezifische und andere Motive spielten für sie keine Rolle, ebenso wenig die Frage, wie „nützlich“ bestimmte Arten aus Menschensicht seien. Vereinfacht gesagt: Für die Forscher sind prinzipiell alle Arten gleich schützenswert - vom „majestätischen“ Tiger bis zum unscheinbaren Frosch. Es geht ihnen schlicht darum, mit den vorhandenen Möglichkeiten einen möglichst großen Teil der Arten zu erhalten.
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