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Tauziehen zwischen Volksgruppen

Mehr als ein Jahr nach den allgemeinen Wahlen hat Bosnien-Herzegowina noch immer keine gesamtstaatliche Regierung - und könnte in dieser Hinsicht den belgischen Negativrekord noch übertreffen. Denn die Aussichten auf ihre baldige Bildung sind derzeit eher gering.

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Auch jüngste Versuche der sechs Parlamentsparteien, sich über eine gesamtstaatliche Regierungskoalition zu einigen, scheiterten. Der Streit dreht sich nach wie vor darum, welche Partei den Posten des Regierungschefs bekommen soll. Die Parteichefs hätten unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Verfassung, stellte der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei (SDP), Zlatko Lagumdzija, nach einem Treffen Ende September in Brcko fest. Die ganze Verantwortung für die Nichtbildung der Regierung liege an den zwei Parteien der kroatischen Volksgruppe, HDZ und HDZ 1990, war Lagumdzijas Parteifreund Damir Hadzic noch expliziter.

Streit über Premier

Tatsächlich beharren die zwei Parteien der kroatischen Volksgruppe seit den Wahlen darauf, den Anspruch auf das Amt des Premiers zu haben, auch wenn die SDP wesentlich bessere Wahlergebnisse verbucht hatte. Ihr Argument: Sie seien die „echten“ Vertreter der kroatischen Volksgruppe, die seit dem Kriegsende im Jahre 1995 noch nie den gesamtstaatlichen Regierungschef gestellt hatten. In den Augen der HDZ-Parteichefs kann die SDP, praktisch die einzige multiethnische Partei im Parlament, das für sich nicht behaupten, auch wenn sie das Premiersamt einem bosnischen Kroaten anvertrauen würde.

Starke Unterstützung für ihre Argumente hatten die zwei HDZ-Parteien von Anfang an von dem bosnisch-serbischen regierenden Bund der Unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD) von Milorad Dodik erhalten. Die drei Parteien sind der Auffassung, dass an der Regierungsspitze das Prinzip der Rotation der drei Staatsvölker - Bosniaken, Serben und Kroaten - gelten soll, auch wenn das in der Verfassung gar nicht so festgelegt ist. Im Grunde geht es darum, einer Partei wie der SDP, die ihre Politik nicht auf den Unterschieden zwischen den Ethnien aufbaut, gar keine Chance zu geben.

Verhandlungen auf Eis

Dabei war zuletzt praktisch schon eine Einigung über die neue gesamtstaatliche Regierung erzielt worden. Der HDZ-Chef Dragan Covic hatte diese laut Medienberichten im letzten Augenblick gesprengt, nachdem er auch eine Umbildung der Regierung im größeren Landesteil, der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, forderte. Das Treffen wurde mit der Feststellung abgeschlossen, zunächst keine weiteren Bemühungen zur Regierungsbildung zu unternehmen.

Das Problem der Regierungsbildung liege in der Föderation, wo die kroatische Volksgruppe nicht dieselben Rechte wie die anderen Staatsvölker - Bosniaken und Serben - genießen, behauptete der derzeitige gesamtstaatliche Premier Nikola Spiric, ein SNSD-Spitzenfunktionär.

Opposition für Neuwahlen

Bosnische Oppositionsparteien sehen unterdessen einen Ausweg aus der Sackgasse in Neuwahlen. Die Bürger könnten nicht mehr warten, warnte Mirsad Djugum vom Bund für eine bessere Zukunft Bosniens (SBB). Die Wähler hätten ihr Vertrauen Menschen geschenkt, die weder Mut noch Willen hätten, eine Regierung zu bilden, ist auch der Vizevorsitzender der bosnisch-serbischen Partei des Demokratischen Fortschritts (PDP), Branislav Borenovic, überzeugt. SNSD-Generalsekretär Rajko Vasic sieht keinen „großen Unterschied“ zwischen Bosnien mit oder ohne einer gesamtstaatlichen Regierung. Seine Partei ist seit Jahren für ihre separatistischen Bemühungen bekannt.

Nichtstaatliche Organisationen verweisen unterdessen darauf, dass die Ausschreibung neuer Wahlen durch die Gesetze und die Verfassung erschwert sei. Das Staatspräsidium kann zwar das Völkerhaus, eine der zwei Kammern des gesamtstaatlichen Parlaments, auflösen, nicht aber auch das Abgeordnetenhaus. Man stecke in einer einzigartigen Verfassungsblockade, da es keine Möglichkeiten für die vorgezogenen Wahlen gebe, stellte Vehid Sehic vom Bürgerforum in Tuzla anlässlich des Jahrestages der allgemeinen Wahlen fest.

Der Hohe Repräsentant, Valentin Inzko, könnte faktisch seine weiten Befugnisse nutzen, um gesamtstaatliche Parlamentswahlen auszuschreiben. Der komplizierte Staat wurde durch das Dayton-Friedensabkommen Ende 1995 auf die Beine gestellt. Alle Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft, die gesamtstaatlichen Institutionen durch die Verfassungsänderungen funktionsfähiger zu machen, waren bisher gescheitert.

„Lächerlicher Staat“

Im vergangenen April konnte nur ein Blitzbesuch der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton in der serbischen Hochburg Banja Luka verhindern, dass die Serben eine Volksabstimmung durchführten. Damit sollte der erste Schritt zu einer Abspaltung von Bosnien und einer Angliederung an die benachbarte „Mutterrepublik“ Serbien getan werden. Ohnehin verunglimpft der bosnisch-serbische Staatspräsident Milorad Dodik Bosnien regelmäßig als „Missgeburt“, der seine Landsleute besser heute als morgen Lebewohl sagten.

Das Machtvakuum durch die interimistischen Behördenspitzen führte mittlerweile dazu, dass das Land selbst günstigste Kredite liegen lässt. Zuletzt waren es 166 Millionen Euro der Europäischen Investitionsbank für den Autobahnbau. „Das ist eine Botschaft an Europa, dass Bosnien ein lächerlicher Staat mit noch lächerlicheren Vertretern der Staatsmacht ist“, zog die Zeitung „Dnevni Avaz“ in Sarajevo daher ein bitteres Resümee.

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