Kein „Name der Rose“
Umberto Eco ist fleißig. Er schreibt Essays, Zeitungsartikel und Bücher über Literaturwissenschaft und Semiotik. Aber seit über 20 Jahren fragen sich viele seiner Leser nur eines: Wann erscheint wieder ein Buch vom Format von „Der Name der Rose“ oder „Das Foucaultsche Pendel“? Nach einigen mittelmäßig besprochenen Romanen war die Hoffnung diesmal besonders groß.
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Und tatsächlich: „Der Friedhof in Prag“ erwies sich in Italien vom Fleck weg als echter Bestseller. Bereits mehr als 500.000 Exemplare wurden seit letztem Jahr verkauft. Kein Wunder, denn für PR-Texte des Verlags eignet sich das Buch hervorragend. Es ist ein historischer Roman, es geht um Verschwörungstheorien, und es wurde von Eco geschrieben. Dass der klassische Spannungsleser das Buch nicht nur kauft, sondern auch bis zum Ende durchhält, darf jedoch bezweifelt werden.
Eco hatte sich ein umfassendes Rechercheprojekt vorgenommen. Acht Jahre benötigte er für das Vorbereiten und Schreiben des Textes. Sein Thema: Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts - also jene Grundlage, auf der die Nationalsozialisten aufbauen konnten. Wer Werke von Eco kennt, weiß, dass man sich auf die Akkuratesse seiner Nachforschungen verlassen kann - sollte das Ergebnis noch so unglaublich wirken.
Parade an Weltverschwörern
Erfunden sind diesmal nur die spärliche Rahmenhandlung und ihr Hauptprotagonist Simone Simonini. Dieser wuchs im Roman bei seinem Großvater auf, einem erbitterten Antisemiten, der während der Jugendjahre eine Zeit lang in einem jüdischen Ghetto gelebt und dem dort offenbar ein alter Mann gehörig Angst eingejagt hatte. Im Laufe seines Lebens zimmerte er sich eine Theorie über die jüdische Weltverschwörung zusammen - und die sollte sein Enkel fortspinnen.
Im Erwachsenenalter stellt sich Simonini junior als Dokumentenfälscher und Spion in den Dienst aller, die ordentlich bezahlen, von den Freimaurern über die Jesuiten bis hin zu den Geheimdiensten verschiedener europäischer Länder. Diese Konstruktion erlaubt es Eco, ein enormes Personal an Verschwörungstheoretikern durch den Roman paradieren zu lassen, die tatsächlich gelebt haben.
Hart entlang der Fakten
Einer dieser Theoretiker ist der Jesuit Abbe Barruel, der in seinen „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus“ die französische Revolution als Verschwörung der Freimaurer, Aufklärer, bayerischen Illuminaten und ähnlichen üblichen Verdächtigen beschrieb. Außerdem tauchen auf: Eugene Sue, Autor des Romans „Der Ewige Jude“ und Henri-Roger Gougenot des Mousseaux, dessen „Der Jude, das Judentum und die Judaisierung der christlichen Völker“ eine zentrale Rolle in der Entstehung des modernen Antisemitismus spielte.
Buchhinweis
Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Hanser, 524 Seiten, 26,80 Euro.
Hörbuchhinweis
Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Hörverlag, 14 CDs (29,99 Euro) bzw. eine MP3-CD (24,99 Euro).
Im Zentrum steht ein fiktives Treffen von Führern der internationalen jüdischen Weltverschwörung, das der Deutsche Hermann Goedsche in einem Roman beschrieb und das später für bare Münze genommen werden sollte. Bei Eco wird es Simoninis Erfindungsreichtum zugeschrieben. Und selbst dieser ist keine reine Erfindung von Eco. Es gibt einen Brief von einem angeblichen Hauptmann Simonini an Abbe Barruel, in dem er diesem zu seinem Werk gratuliert und ihn auffordert, auch die Juden in sein Verschwörungsmodell miteinzubeziehen. Dieser Brief könnte eine Fälschung sein und der Name erfunden, doch diesem entnahm ihn Eco.
Raffgier, Dünkel, Intrigenspiele
Mittels Collagetechnik fügt Eco solche Texte zusammen und vermittelt den Eindruck von einem Jahrhundert, in dem Raffgier, Dünkel und karrieristische Intrigenspiele den Bodensatz für Pseudowissenschaften, Geheimbünde und dem Festhalten an Fälschungen bildeten - gipfelnd in den „Protokollen der Weisen von Zion“ und der Pariser Dreyfus-Affäre.
Und überall hat bei dem Autor, der als einer der wenigen verbliebenen „Universalgelehrten“ gilt, der Protagonist Simonini seine Finger im Spiel. Er mordet, er fälscht, er spioniert, er denunziert. Aufgrund der Fülle an historischem Material, das Eco unterbringen will, bleibt die Rahmenhandlung episodenhaft. Ein Spannungsbogen wird lediglich dadurch von Anfang bis knapp vor Ende aufrechterhalten, da man nicht weiß, ob Simonini und ein Priester, mit dem er in Kontakt steht, ein und dieselbe Person sind - also ob eine Persönlichkeitsstörung oder auch hier noch eine Verschwörung vorliegt.
Zwischen Pynchon und Tolstoi
Eco hätte sich an Thomas Pynchons „Gegen den Tag“ orientieren sollen, in dem in einem ähnlichen Rahmen auf eine durchgängige Handlung gleich gänzlich verzichtet wurde. Er jedoch schöpft aus einem ebenso übervollen historischen Repertoire und versucht, daraus einen Roman der epischen Weite von Tolstois „Krieg und Frieden“ zu konstruieren. Auch dort werden die Freimaurer thematisiert. Die Kampfszenen, die Eco beschreibt, erinnern ebenfalls an Tolstoi. Der mittlerweile 79-jährige Italiener bedient sich einer Sprache, die sich an der Zeit der Handlung orientiert (in der deutschen Übersetzung glaubhaft umgesetzt von Burkhart Kroeber).
Als historisches Lesebuch, das in selten gelesener Geballtheit den Ekel an antisemitischen Theorien vermittelt, funktioniert der Roman. Zu empfehlen ist auch die Eco-eBook-Zusammenstellung des Hanser-Verlags, weil sie eine Materialsammlung enthält, in der man die historischen Fakten zu „Der Friedhof in Prag“ nachlesen kann. Und an Eindringlichkeit gewinnt der Text Ecos in der Hörbuchversion - vor Abscheu über den todbringenden Kauderwelsch, der auf wahren Begebenheiten basiert, will man mitunter davonlaufen.
Ein Kochbuch?
Eines, sagt Eco gegenüber der „Zeit“, habe ihn an der Rezeption seines Buches verwundert. Simonini ist Gourmet und Gourmand und isst allenthalben, je nach Finanzlage, üppige Menüs, die jeweils genau beschrieben werden und allerlei deftige Innereienrezepte beinhalten. Das, so Eco, sollte den Ekel beim Lesen noch verstärken. Allerdings werden seine Rezepte nun in Gourmetkreisen herumgereicht. Die große „Michelin“-Verschwörung?
Simon Hadler, ORF.at
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