„Romantisch und totalitär“
Die Wolkenkratzer und die schneebedeckten Berge von Teheran hat der Israeli Ron Leshem nie gesehen, doch ausgerechnet dorthin legt der junge Schriftsteller die Handlung seines zweiten Romans „Der geheime Basar“. Drei Jahre recherchierte er für sein Werk, knüpfte Kontakte zu Iranern über das Internet und erschuf dann eine kaleidoskopartige und zugleich bedrückende Welt rein aus seiner Vorstellung.
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Leshem, dessen Erstlingswerk „Wenn es ein Paradies gibt“ bereits verfilmt und bei der Berlinale 2007 unter dem Titel „Beaufort“ mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, ist von den Gemeinsamkeiten, die er mit seinen iranischen Internetfreunden teilt, ebenso erschüttert wie fasziniert. Während seiner Recherchearbeiten gerät er zunehmend in den „Sog eines Volkes, das romantisch und totalitär ist, von Narben übersät und süchtig nach Drama“, wie er im Epilog schreibt.
Zwischen Armani und Khomeini
Und dieses Volk lernt man als Leser gleich zu Beginn des Romans kennen, als der junge, verträumte Protagonist Kami aus der Provinz wegen eines Studiums zu seiner Tante nach Teheran zieht und die romantische Idylle eines Fischerortes gegen die pulsierende Großstadt tauscht. In einer lebendigen, mit Metaphern gespickten Sprache schildert Leshem seine Vorstellung vom heutigen Teheran und führt den Leser zwischen fluoreszierenden Armani-Reklametafeln und Plakaten des Revolutionsführers Khomeini vorbei in das Herz der Metropole.
Skurrile Charaktere im verschworenen Kreis
Mit großer Detailgenauigkeit werden die teils skurrilen Charaktere der Menschen gezeichnet, die Kami in der Großstadt trifft und die in ihrer Komplexität oft nur aus der engen Verflechtung mit der bewegten Landesgeschichte zu verstehen sind. So ist seine Tante Zarah eine einst aufstrebende, bejubelte Filmdiva, die im Zuge der islamischen Revolution ihre Berufsberechtigung verloren hat und nun - von melancholischen Träumen an die Vergangenheit begleitet - ihr Dasein hinter den eigenen vier Wänden fristet.
Nicht weniger schrullig sind die beiden Nachbarn der extravaganten Dame: Eine angebliche ehemalige Oberste Richterin des Schah-Regimes, die jetzt zwischen Yogakursen Lottoscheine auf dem Schwarzmarkt verkauft, sowie ein schwuler, ewig adoleszenter Beamter im Bauministerium. Unter den misstrauischen Augen der regimetreuen benachbarten Familie Nadschafian bilden die vier eine illustre, verschwörerische Runde, der Laptop und Internetzugang plötzlich eine Welt ohne Grenzen eröffnen.

Rowohlt Berlin
Ron Leshem: Der geheime Basar. Rowohlt Berlin, 444 Seiten, 23,60 Euro.
Der Computer als „heilige Flamme“
War es das Internet, das dem Autor über Soziale Netzwerke das Eintauchen in ein hermetisch abgeriegeltes Land ermöglichte, so ist es für die Charaktere ein Ventil, um aus gerade dieser Welt auszubrechen. „Allah, segne, diese Generation,(...) die uns den Computer gebracht hat“, stellen Zarah und ihre Nachbarin begeistert fest, während das Notebook auf einem orangenen Barhocker wie eine „heilige Flamme“ über ihnen schwebt. Während sich seine Mitbewohner als „autodidaktische Google-Piraten“ mit You-Tube-Videos und dem Kauf von Mondparzellen beschäftigen, wird Kami aktivistisch und träumt sich in der virtuellen Welt des Netzes zum Prager Frühling, zum Sturm der Bastille und auf den Pekinger Tiananmen-Platz.
Parallelwelt mit Drogen, Partys und Sex
Allen Klischees zum Trotz ist es jedoch eine Liebesgeschichte, die im Zentrum von „Der Geheime Basar“ steht: Kami trifft auf die ungestüme, angehende Rennfahrerin Nilu. Abgedroschene Gefühlsfloskeln findet man bei Leshem aber keine, sondern vielmehr nuancenreiche Details und viel Spannung, die vor allem aus dem Reiz des Verbotenen gespeist wird. Von Mahmud Ahmadinedschads Sittenwächtern verfolgt manövriert sich das junge Paar geschickt an allerlei Ungesetzlichem vorbei und taucht Hals über Kopf in die geheimen Basare von Teheran ein – in eine Parallelwelt von Drogen, Partys und Sex, die unter der vom Regime glattpolierten Oberfläche brodelt.
Aktivismus versus Resignation
Dass Nilu mit ihrem Ziel, gleichberechtigte Formel-1-Pilotin zu werden, ein riskantes Wagnis eingeht, kann man mitunter zwischen den Zeilen lesen. „Nilu fuhr mit offenem, wild flatterndem Haar, und sie überholte wild, wie eine Wahnsinnige. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob das ihr Selbstzerstörungstrieb war oder ob sich das Leben so anfühlen sollte.“ Mit Andeutungen dieser Art gelingt es dem Autor auch, ohne Konstruktion eines Handlungsbogens im klassischen Sinne, die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten.
Nach sich wild überschlagenden Ereignissen ist es ein Anflug an Resignation, mit der der Leser aus der Erzählung entlassen wird. „Wir haben kapituliert, aber wir leben, trinken Tee und lächeln häufig verlegen. Was schmerzt und was tröstet ist im Prinzip das Gleiche“, sagt Kami am Ende und begleitet seinen tiefgläubigen Jugendfreund Amir zum Freitagsgebet.
Leshem: „Ich war Kami“
Auch der Autor gesteht im Nachwort, dass er sich wohl an Gesetze, Unrecht und Diskriminierung gewöhnen würde, lebe er selbst im Iran. Und wenngleich er durch den Epilog an sich Distanz zur fiktiven Handlung herstellt, so betont er gerade dort die starke Affinität mit dem Protagonisten, die bis zur Verschmelzung geht. Mit dem Schreiben erschafft sich Leshem ein Leben, das ihm nie möglich ist, sagt er. Und ganz konkret: „Ich war Kami“. Man nimmt es ihm beinahe ab.
Am Ende steht für den Leser die Frage nach der Authentizität aber nicht im Zentrum, sondern vielmehr der inspirierende Versuch, sich mit viel Sensibilität in andere Lebenswelten hinein zu fühlen, Gemeinsamkeiten zu entdecken und ein Verständnis für „das Andere“ zu entwickeln. Dass der Roman nicht in Teheran, sondern in einem Obstgarten in Tel Aviv entstanden ist, erscheint dabei nebensächlich.
Sonja Ryzienski, ORF.at
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