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Lager reihenweise geplündert

Im Chaos der Kämpfe zwischen Rebellen und versprengten Einheiten des entmachteten Regimes von Muammar al-Gaddafi verschwinden laut internationalen Medienberichten in Libyen ganze Waffenarsenale - wohin, weiß derzeit niemand. Nicht minder rätselhaft ist, dass Gaddafi offenbar noch in den letzten Wochen Schutzausrüstung gegen chemische Kampfstoffe quer durch sein Land karren ließ.

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Zuletzt berichtete CNN, dass aus einem Lager in der Hauptstadt Tripolis Boden-Luft-Raketen vom Typ SA-24 in beachtlich kurzer Zeit geplündert worden seien. Bei einem gemeinsamen Lokalaugenschein eines TV-Teams des US-Senders und Mitarbeitern der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) seien leere Kisten und Inventarlisten gefunden worden - allein, der Inhalt war verschwunden. Die infrarotgesteuerten Waffensysteme aus ex-sowjetischer bzw. russischer Produktion, die von der Schulter aus abgefeuert werden, können auf eine Distanz von bis zu 3,5 Kilometern gegen Hubschrauber und Flugzeuge eingesetzt werden.

Raketen für den Waffenschwarzmarkt

Gegenüber HRW hätten Augenzeugen berichtet, Kämpfer der Rebellen hätten die Raketen mitgehen lassen. In einem Lager seien auch Artillerie- und Werfergranaten sowie SA-7-Raketen gefunden worden, allerdings hätte auch davon kistenweise Munition gefehlt, berichtete CNN am Donnerstag. Peter Bouckaert, Experte für Katastrophenmanagement bei HRW, erklärte, das Muster sei überall im Land ähnlich: „In jeder Stadt, in die wir kommen, sind als Allererstes die Boden-Luft-Raketen weg.“ Die brächten auf dem Schwarzmarkt mehrere tausend Dollar pro Stück ein.

Offene Kisten und Waffen

Reuters/Zohra Bensemra

Libysche Rebellen vor einem Waffendepot Gaddafi-loyaler Truppen in Tripolis

„Flugverbotszone“ Nordafrika

„Wir reden hier von rund 20.000 Boden-Luft-Raketen in ganz Libyen, ich habe ganze Autos vollgepackt damit gesehen“, so Bouckaert. „Die könnten ganz Nordafrika in eine Flugverbotszone verwandeln.“ Jedenfalls lasse die Situation Zweifel daran aufkommen, dass der Nationale Übergangsrat die Situation im Griff hat bzw. verhindern kann, dass Waffen in dunklen Kanälen versickern.

Auch der Kommandierende der US-Truppen für Afrika, General Carter Ham, hatte sich schon vor Wochen gegenüber CNN besorgt gezeigt, besonders über das reihenweise Verschwinden von Boden-Luft-Raketensystemen. Auch er bezifferte deren Bestände vor Beginn der NATO-Lufteinsätze mit rund 20.000. Laut einem Sprecher des Militärbündnisses wurden bei Angriffen auf Ziele regierungstreuer Verbände aber nicht einmal 600 davon zerstört.

Nachschub für Al-Kaida?

Gilles de Kerchove, Anti-Terror-Koordinator der EU, hatte Anfang der Woche die Befürchtung geäußert, die Raketen und andere Waffen könnten der Terrororganisation „Al-Kaida im Islamischen Maghreb“ in die Hände fallen. Laut CNN bestätigten die Nachbarstaaten Niger und Tschad, dass libysches Kriegsmaterial inklusive Sprengstoffs und Raketen, die für die Extremisten bestimmt seien, über ihre Grenze geschmuggelt würden.

Bouckaert erinnerte daran, dass eine bis zwei Artilleriegeschoße dafür ausreichten, etwa eine Autobombe mit enormer Sprengkraft zu bauen. „Wir sollten uns daran erinnern, was im Irak passiert ist“, so Bouckaert, als das Land nach dem US-Einmarsch von Aufständischen „auf den Kopf gestellt“ worden sei.

C-Waffen „gesichert“?

Allerdings geben nicht nur verschwundene Raketen und Artilleriemunition Anlass zur Sorge, sondern nach wie vor auch mögliche Restbestände an chemischen Waffen. Die „Washington Post“ zumindest berichtete am Donnerstag, dass in den letzten Wochen große Mengen von Schutzanzügen in die wenigen noch verbliebenen Hochburgen Gaddafi-Treuer gebracht worden seien.

Nun wird darüber spekuliert, ob diese noch immer über Vorräte des C-Kampfstoffes Senfgas verfügten, wobei das Pentagon zuletzt erklärt hatte, dass das Arsenal „gesichert“ sei. Offiziell war unter Gaddafi 2003 in Libyen mit der Vernichtung von chemischen Kampfstoffen und Trägergeschoßen begonnen worden. Doch laut Schätzungen der UNO-nahen Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) waren zu Beginn des Aufstands gegen Gaddafi im Februar noch mindestens elf Tonnen Senfgas in Libyen gelagert. Was damit genau geschehen ist, weiß offenbar niemand.

Tausende Schutzanzüge nach Zentrallibyen

Besorgniserregend sei, hieß es in der „Washington Post“, dass noch am 26. Juli rund 2.000 Schutzanzüge und Schutzmasken aus tschechischer Produktion von der Küstenstadt al-Ajelat nach Zentrallibyen transportiert wurden. Beweise dafür hätten sich in sichergestellten Aufzeichnungen aus einem Regierungsgebäude gefunden. Auch Gaddafis Heimatstadt Sirte sei Ziel entsprechender Transporte mit rund 7.500 Schutzmasken und Dekontaminationsmittel gewesen, Auftraggeber das Verteidigungsministerium. Das Zielgebiet befindet sich weiterhin unter der Kontrolle Gaddafi-treuer Truppen.

Gasmaske

AP/Francois Mori

Schutzausrüstung gegen C-Waffen in einem Lager nahe al-Ajelat

Letzter großer Bluff?

Der Nationale Übergangsrat sieht die Situation trotzdem eher gelassen. Einer der Koordinatoren der Gaddafi-Gegner, Mohamed al-Akari, glaubt nicht, dass Gaddafi chemische Kampfstoffe einsetzen wird. Der entmachtete Revolutionsführer blufft, vermutet er. Auch dessen letzte Getreue würden niemals Kampfstoffe gegen Libyer einsetzen, so al-Akari. „Er versucht dieses Spiel, um noch verhandeln zu können, nicht mehr.“

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