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Der blinde Fleck der Protestbewegung

„Anachnu lo jecholim ligmor et hachodesch“ („Unser Geld reicht nicht einmal bis zum Monatsende“) - dieser Satz ist zum Slogan einer massiven Protestbewegung in Israel geworden. Was zunächst unscheinbar und partikulär etwa mit einem Facebook-Protest gegen überhöhte Joghurtpreise und den „Müttern mit Kinderwägen“ gegen die Kinderbetreuungskosten begann, hat sich längst zu einer landesweiten Protestwelle ausgewachsen.

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Angelehnt an die ägyptischen Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo haben mittlerweile Zehntausende überwiegend junge Israelis Zeltlager auf zentralen Plätzen in Tel-Aviv, Jerusalem, Haifa und zahlreichen anderen Städten errichtet, um gegen die in den letzten Jahren stark gestiegenen Lebenshaltungskosten zu protestieren.

Mit einer der zentralen Forderungen ist die Bewegung vorerst bereits gescheitert: Sie wollte das umstrittene Wohnungsbaugesetz zu Fall bringen, doch die Knesset billigte das Gesetz Anfang August. Die Regierung argumentiert, damit solle genau auf die Forderung der Demonstranten, dass Wohnen billiger werden müsse, eingegangen werden. Die Protestbewegung dagegen behauptet, das Gesetz werde es Bauherren nur noch leichter machen, große Wohnungen zu bauen, die für die Mittelschicht aber weiterhin zu teuer seien.

Gitarrenspieler in einer Zeltstadt in Tel Aviv

APA/EPA/Oliver Weiken

In Tel Aviv halten sich die Demonstranten mit Gitarrenspiel bei Laune

Protestbewegung gibt nicht auf

Die Protestbewegung ist aber weiter in vollem Gange. Von Studenten bis hin zu den „Eltern mit Kinderwagen“ hat der Protest ausgerechnet jene Mittelschicht erfasst, die als das wirtschaftliche und soziale Rückgrat des Hightechlandes im Nahen Osten gilt und von manchen als an Politik uninteressierte, ja hedonistische Generation gebrandmarkt worden war. Israelische Kommentatoren sind sich weitgehend einig: Egal ob die Protestbewegung, die in sich sehr heterogen und ohne politische Führung ist, die Umsetzung ihrer konkreten Ziele erreicht, eines werde bestimmt bleiben - nämlich die Politisierung einer ganzen Generation.

Grundkonflikte brechen auf

Und die ist genau so, wie sie sich der regierende rechtskonservative Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (Likud) nicht wünschen kann: wirtschaftspolitisch links und sozialpolitisch liberal - vorerst zumindest.

Junge Israelis mit ihren Kindern in jerusalemer Zeltstadt

APA/EPA/Jim Hollander

In Jerusalem zelten viele junge Israelis mit ihren Kindern

Tatsächlich hat die Bewegung, deren prominenteste Gesichter Dafne Lif und Stav Schapir sind, mit einem Schlag zahlreiche Grundsatzkonflikte, die das Land teils seit seiner Staatsgründung begleiten und belasten - im politischen Alltag meist aber nur in Form argumentativer Totschlagargumente oder verklärter Folklore auftauchen - wieder brandaktuell ins Zentrum gerückt: Da wäre zum einen die historisch und ideologisch vielschichtige Debatte über das Wirtschaftssystem, also die Frage Wohlfahrtsstaat versus Kapitalismus a la Thatcher, die Übermacht der „Tycoonim“, der Superreichen und Mächtigen in der Wirtschaft, und deren Verfilzung mit der Politik.

Neu flammt auch die Verbitterung der säkularen Israelis gegenüber den Orthodoxen auf, die - historisch bedingt - vom Staat mehr Zuwendungen bekommen und noch dazu vom dreijährigen Militärdienst befreit sind.

Siedlungen als Wohlfahrtsstaat

Ebenso ist die massive staatliche Finanzierung der Siedlungen im Westjordanland und Ostjerusalem ein „heißes“ Thema. Dort gebe es genau jenen Sozialstaat, den man sich wünsche, sind sich die meisten der Politcamper einig. Dort habe Netanjahu, der wohl prononcierteste Verfechter von Wettbewerb und freier Marktwirtschaft in Israel, kein Problem, den Wohnungsbau und die Kindertagesstätten und die Erziehung massiv zu subventionieren. Nicht zuletzt wirft der Protest auch die Generationenfrage auf: Nicht wenige werfen den Demonstranten vor, sie seien bloß „verwöhnt“ und möchten ihren aufwendigen Lebensstil (Ausgehen am Wochenende und Wohnen im Zentrum Tel Avivs und nicht in einer der Satellitenstädte in der Peripherie des Landes, Anm.) auf Staatskosten führen.

„Zionistisch im tiefen Sinne“

Nach Ansicht des bekannten Politologen und Herzl-Biographen Schlomo Avineri ist die Protestbewegung nicht nur eine soziale, sondern auch eine „zionistische im tieferen Sinne“, indem sie an den Kampf um Gerechtigkeit und Humanität anschließe. Immerhin gibt es etwa in Jafo bei Tel-Aviv mittlerweile ein gemeinsames jüdisch-arabisches Zeltlager.

Das wichtigste Thema fehlt

Doch bleibt abzuwarten, wie starke Spuren die Protestbewegung tatsächlich im israelischen Alltag hinterlässt. Denn eines ist mehr als auffällig: Die vielleicht größte gesellschaftliche Schieflage - jene zwischen den aschkenasischen Juden aus den USA und Mittel- und Westeuropa und den aus der Ex-UdSSR, den arabischen Ländern und Afrika stammenden Juden, wird praktisch nicht thematisiert.

An der Protestbewegung beteiligen sich mit ganz großer Mehrheit Israelis aschkenasischer Herkunft. Die Sefarden und aus den arabischen Ländern stammenden Israelis dagegen blicken eher staunend auf die Proteste: Sie bilden überwiegend die Unterschicht, die seit Jahrzehnten im Hightechland Israel teils in ärmsten Verhältnissen lebt und sich über die Forderungen eher wundert.

„Mein Herz ist nicht bei den Protesten“

Als die von jemenitischen Juden abstammende israelische Sängerin Margol vor Tagen meinte, „Mein Herz ist nicht bei den Protesten“, löste sie einen medialen Sturm der Entrüstung aus - sprach aber wohl vielen Sefarden aus der Seele. Viele protestierten schlicht, weil sie „keine billige Wohnung von der Oma“ vererbt bekommen hätten, so Margol. Wenn es wirklich um die hohen Wohnungspreise gehe, dann könnten sie ja an die Peripherie ziehen, dort gebe es genügend Wohnraum. Der Protest sei vielmehr politisch, und Ziel sei der Sturz Netanjahus.

Die Entrüstung war riesig, sogar eine Anti-Margol-Facebook-Gruppe entstand. Doch nur wenn es der Protestbewegung gelingt, auch die Sefarden zu gewinnen, besteht die Chance auf eine echte Änderung. Auch dieser Konflikt reicht in die Gründungszeit Israels zurück und liegt in der jahrzehntelangen (All-)Macht der aschkenasischen Arbeitspartei. Hier schließt sich der Kreis: Kein gesellschaftlicher Protest entkommt diesen wirkmächtigen Fluchtlinien der israelischen Gesellschaft - derzeit sieht es nicht so aus, als ob die Zeltstadt-Bewegung diese außer Kraft setzen kann oder auch nur will.

Guido Tiefenthaler, ORF.at

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