Die Bezwingung eines Textmassivs
Viel Getöse hat es im Vorfeld des heurigen Salzburger-Festspiele-„Faust“ gegeben. Der Tragödie erster und zweiter Teil sollte auf die Bühne kommen, also die Höhen des gesamten Bildungsklassikers erklommen werden. Und weil hoch oben, wo nur die Götter und Peter Stein wohnen, die Luft dünn ist, nahm Regisseur Nicolas Stemann einen besonderen Anlauf auf das Stück und erklärte kurzerhand den Text zum Hauptdarsteller. Mit seiner eingeschworenen Truppe platzierte er so manche Abrechnung in den Klassiker mit den 12.100 Versen.
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Der Text als Hauptdarsteller: Das ist bei Stemann Credo und immer auch Wagnis. Als Reclam-Heft lag der „Faust“ zu Beginn des langen Abends auf der Halleiner Pernerinsel in den Händen von Schauspieler Sebastian Rudolph. Sich durchnuscheln oder doch gleich kalt abtragen, das schien die dramaturgische Gretchen-Frage in dieser Koproduktion von Salzburger Festspielen und Hamburger Thalia Theater.
Kalt abgetragen wurde nicht, doch Stemann nahm dem „Faust“ gleich am Anfang das Schwere. Geschickt spielte sich Sebastian Rudolph mit Mimikry durch den Prolog, bereitete das Publikum darauf vor, dass eine Person viele Rollen an diesem Abend sprechen würde - und siehe da, es funktionierte, was einen erklärbaren Hintergrund hatte: Der Text des „Faust“ liegt uns wie eine Phraseninfusion im Blut, und so mancher im Publikum vollendete die Sätze mit, die da auf der Bühne ausgesprochen wurden (was man freilich ungefähr so mögen kann wie das Popcorn-Rascheln im Kino).

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Menage a trois, oder wenn die Liebe zum Teufelswerk wird (Sebastian Rudolph, Patrycia Ziolkowska und Philipp Hochmair)
Ein Therapiebedürftiger
Faust, diese Figur, die an der Endlichkeit des Lebens und der Erkenntnis krankt, ist bekanntlich zu einem Pakt mit dem Teuflischen bereit. Heute würde man sagen, er nähme jede Einladung zur Glücksdroge an. Und in der Tat ist dieser Faust ein Therapiebedürftiger. Am Anfang wirkt Rudolph, der über den Abend hinweg trotz aller Rollenwechsel doch hauptsächlich Faust sein wird, wie ein Borderliner, der gegen die Enge seines Lebens rebelliert. Er greift zu Farbe und Pinsel. Doch wo kein Bob Ross, da keine Lösung für Befindlichkeitstroubles.
Der Teufel, er zieht bei Faust nicht in Gestalt, sondern als Sprachversatzstück und Stimme ein. Rudolph spricht anfänglich die Rolle von Mephistopheles mit - Schizophrenie könnte hier die Triebkraft sein im Aufbegehren gegen alle Endlichkeit. Wenn dann Philipp Hochmair nach einer optisch eindrucksvoll gelösten Pudel-Schimäre die Bühne betritt, ist nicht Mephisto Fleisch geworden, sondern Faust mit einem zweiten Ich konfrontiert, das zugleich auch die Deutungshoheit über das Werk herausfordert.
Ringen um den Text
Wer darf hier folgenschwere Sätze sagen? Erst nach diesem Machtspiel am lebenden Text lässt sich der Regisseur auf das Rollenspiel von Faust und Teufel in beinahe klassischer Manier ein. Im Hintergrund waren die Schimären der Wand entlang gezogen - und wie aus einem Traum wird Margarete die Bühne betreten. Patrycia Ziolkowska spielt geschickt die Mischung aus Traumbild, Sehnsucht und Gegenentwurf zu Faust. Verführung und Tugendhaftigkeit in eine Person zu legen und die Nachbarin gleich mit hinein, das erfordert schauspielerische Grenzgänge, die Ziolkoswka eindrucksvoll meistert.

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Gegen die Wand und immer auf sich selber zu: Patrycia Ziolkowska, die den Text zwischen innerem Monolog und Revuetheater landet
Margarete wird sich auch selbst richten und retten. Beklommen endet der erste Teil. Hatte sich das brillant agierende Schauspielertrio lange Zeit auch immer wieder durch den Klassiker geflachst, so hinterließ man das Publikum auch mit jenem Gefühl, das einem das Lachen im Halse stecken ließ. Gerade aus der Dynamik, die hier dem Text abgewonnen wird, und der immer wieder gesuchten Intimität im sich rasch drehenden Dreigespann Faust-Mephistopheles-Margarete bezieht diese Deutung des ersten Teils des „Faust“ ihre Kraft - Video dazu in iptv.ORF:at

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Alle Frauenrollen im ersten Teil: Patrycia Ziolkowska
Mit den Grundfragen in den Kaisersaal
Bekanntermaßen treibt der zweite Teil des „Faust“ diese im Dreigespann entworfenen Grundfragen ins gesellschaftlich bis mythologisch Große. Und es bedarf eines grundlegenden Masochismus, sich diesem überblähten Bildungswerk zu stellen, bei dem das Scheitern eine wahrscheinlichere Wette ist als der Erfolg. Stemann nutzt nicht zuletzt den Kaisersaal und die Wirtschaftskrise, um seiner Arbeit an Elfriedes Jelineks „Kontrakten des Kaufmanns“ ein Dacapo zu geben (bzw. Ideen seiner letzten Inszenierung recht freimütig zu plündern).
Die naheliegende Überblendung von „Faust II“ mit der aktuellen Bankenkrise treibt der Regisseur noch weiter. Er setzt Goethe (dargestellt von einer Dame im grellen Abendkleid) samt Tischgesellschaft an den Rand des Kaisersaals und lässt im Moment, wo man den Gedanken der Humanität verhandelt, auch Max Reinhardt in Gestalt einer überdimensionalen Sprechpuppe hinzutreten. Reinhardt bewegt die Lippen zu einem Schauspiel, das unheimlicher nicht sein könnte: hier der Humanitätsgedanke, da das Nachdrucken von Geld.
Man durfte das Kurzzeitgedächtnis strapazieren. Hatte da nicht gerade die Salzburger Landeshauptfrau, die man im Stück auch direkt als „Magister Burgstaller“ anspricht, in ihrer Eröffnungsrede am Donnerstag ebendiesen Faust zitiert samt der Abhängigkeit der „Mächtigen von der Wirtschaft“? Und gab es da nicht die Ausladung des Schweizer Globalisierungskritikers Jean Ziegler?

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Die Gretchen-Frage neu gewendet: In jedem steckt neben der Tugend auch der Teufel
Ein Hauch von Georg Friedrich
Stemann gibt Ziegler eine Stimme, indem er Textteile aus dem „Faust“ mit Verweisen auf den Schweizer garniert - was immerhin einigen Applaus mit sich bringt. Doch jede Selbstschau, im „Faust“ wie in Salzburg, hat ihre Grenzen. Außerdem will Stemann nachlegen. Hochmair darf auf der Bühne im breitesten Georg-Friedrich-Wienerisch die Leistungen der „Post-Dramaturgie“, die zunehmend wie eine „Post-Traumaturgie“ wirkt, loben. „Wir ha’m Klassiker mit Videos gmischt“, wird er mehr als einmal in den Raum deklamieren, so, als müsste man die Auseinandersetzung rund um die Festspielrede des Autors Daniel Kehlmann und dessen Kritik an unvermitteltem Spaghetti-Essen und Videoeinsatz im größten deutschen Klassiker beerdigen.
Hinweis
„Faust I + II“ ist im Rahmen der Salzburger Festspiele noch am 28.7., 30.7., 6.8., 14.8., 15.8., 20.8. und am 21.8. auf der Pernerinsel in Hallein zu sehen (Beginn jeweils 17.00 Uhr).
Stemann wollte, wie er selbst schreibt, dem Text zu dessen Recht verhelfen. Aber wohin mit einem Text, der bis nach Sparta hin ausufert und sich nicht bändigen lässt? Die Antwort des Regisseurs ist die Versöhnung. Die steht ja auch im Text. Nach Lebensrausch und Grablegung, die Stemann mit dem Bild von den kleinen Seelchen fertig erzählt (in dem Fall von durch Windmaschinen aufgewirbelten Plastiksäckchen, die auf den Köpfen von Handpuppen landen sollen), schickt Stemann Josef Ostenhof als Transgender-Chorus-Mysticus über die Bühne, der die schönen Verse „Alles Vergängliche/Ist nur ein Gleichnis/Das Unzugängliche/Hier wird’s Ereignis/Das Unbeschreibliche/Hier ist’s getan/Das Ewig-Weibliche/Zieht uns hinan“ als Schnulze anstimmt.
Nach achteinhalb Stunden siegt die Dieter-Thomas-Heck-Tonlage mit einem mitsingenden und den Abspann verlesenden Regisseur über ein doch erschöpftes Publikum, das vielleicht auch deshalb Bravo ruft, um von dem Zuviel dieses Stücks erlöst zu werden.
Gerald Heidegger, ORF.at
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